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Rain Song

Rain Song

Titel: Rain Song
Autoren: Antje Babendererde
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beschlossen, Touristen zu tolerieren? War das Indianerreservat mit seinen landschaftlichen und kulturellen Attraktionen neuerdings für Fremde zugänglich, ohne dass sie bei ihren Erkundungen Gefahr liefen, sich den Hals zu brechen?
    Es raschelte neben Hanna im Gesträuch und sie zuckte zusammen. Cape Flattery ist ein Ort der Geister, hatte Jim damals gesagt und sich über ihr skeptisches Gesicht amüsiert. Hanna fröstelte. Obwohl sie nicht viel von Übersinnlichem hielt, hatte sie immer noch das merkwürdige Gefühl, nicht allein zu sein. Als ob sie jemand beobachtete.
    Unwillkürlich zog sie die Schultern nach oben. Die feuchtkalte Luft kroch in ihre Kleider und Hanna bereute, nicht ihre Windjacke über das Fleece gezogen zu haben. Die bleierne Stimmung am Kap schlug sich auf ihre Seele und erinnerte sie daran, warum sie hier war: Sie hatte den Ozean überquert, um nach Jim Kachook zu suchen. Denn Liebe hört nicht einfach auf, auch wenn man sich das manchmal sehnlichst wünscht. Sie hinterlässt Spuren, die einen wie unsichtbare Wegweiser durchs künftige Leben führen.
    Hanna wandte ihren Blick von der Insel und verließ die Plattform. Sie lief ein paar Schritte den felsigen Pfad zurück, bis zu der Stelle, wo einige Holzstufen zu einer kleinen, von salzverkrusteten Bäumen und Sträuchern gesäumten Ausbuchtung führten, die ebenfalls mit einem neuem Geländer gesichert war. Sie stieg die Stufen hinab. Von hier aus konnte man die Felsenhöhlen von Cape Flattery sehen. Es waren tiefe Grotten im Basaltgestein, deren muschelbewachsener Boden selbst bei Ebbe noch von Wasser bedeckt war.
    Vogelschreie drangen aus den großen Höhlen. Hanna lehnte sich über die Brüstung, um besser in die vordere Höhle hineinsehen zu können. Von Jim wusste sie, dass hier große Seevögel nisteten. Die Jungen schrien, wenn ihre Eltern mit Nahrung in den Schnäbeln vom Meer zurückkehrten.
    Hanna seufzte. An diesem Ort drängte die Sehnsucht der letzten Jahre mit aller Macht an die Oberfläche. Tränen brannten in ihren Augen und die Kehle wurde eng. Sie nahm das leise Knarren gar nicht wahr, die kaum hörbare Warnung des Materials, bevor es unter ihrem Gewicht nachgab und wegrutschte. Das nagelneue Geländer löste sich in seine Einzelteile auf. Instinktiv drehte Hanna sich um ihre eigene Achse und versuchte, nach einem rettenden Ast zu greifen – vergeblich.
    Ihr Schrei glitt über das Wasser wie ein flacher Stein, der erst einige Male wieder aus der Oberfläche springt, bevor er in endgültigen Tiefen versinkt. Hannas Hände klammerten sich in wildes Gestrüpp, das aus einer Felsspalte wuchs, ihre Füße suchten verzweifelt nach einem Halt. Zentimeter für Zentimeter rutschte sie weiter nach unten. Die kleine Ausbuchtung war schon mehr als einen Meter über ihr, der Meeresspiegel zehn Meter unter ihr.
    Ich werde sterben.
    Hanna schrie nicht mehr. Keiner würde sie hören an diesem einsamen Ort – nicht zu so früher Stunde. Zwischen dem drohenden Aussetzen der Sinne und ihrer wilden Angst lag eine Welt von Bildern, die in einem wahllosen Durcheinander auftauchten. Sequenzen aus ihrer Kindheit, Lachen und Weinen. Eindrücke von Zärtlichkeit und von Einsamkeit. Das Fieber seelischer Verwundung. Dann sah sie sich selbst wie in einem Spiegel, nackt und hilflos. Verzweifelt bäumte sie sich dagegen auf.
    Durch die jähe Bewegung rutschte Hanna wieder ein Stück und das holte sie in die Realität zurück. Das Gesträuch, in das sie sich klammerte, hatte biegsame Zweige und kräftige Wurzeln, aber sie würden ihr Körpergewicht nicht ewig halten. Ihr war nur eine kurze Pause vergönnt. Zeit, um sinnlos darüber nachzudenken, was aus ihrer Tochter Ola werden würde, wenn sie von dieser Reise nicht lebend nach Hause zurückkehrte.
    Hanna wagte einen kurzen Blick über ihre Schulter nach unten. Sie hing direkt über muschelbewachsenen Uferfelsen, freigelegt durch die Ebbe. Der sichere Tod.
    Ein unmenschlicher Laut kam aus ihrer Kehle.
    Das war nicht fair. Jedenfalls nicht auf diese Weise. Gerade jetzt, wo sie dabei war, Ordnung in ihr Leben und das ihrer Tochter zu bringen.
    Ich darf nicht sterben.
    Wer sollte Ola von ihrem Vater erzählen – oder von diesem Ort am Ende der Welt, aus dem er stammte? Wer würde Jims Tochter von ihren indianischen Vorfahren, den Walfängern, Lachsfischern, Holzschnitzern und Korbflechtern berichten? Wer, wenn nicht sie?
    Tränen liefen über ihre Wangen. Zentimeter für Zentimeter gab die Felsspalte die
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