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Rain Song

Rain Song

Titel: Rain Song
Autoren: Antje Babendererde
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schnell das Boot«, sagte er, schon halb im Wasser, »dann bringe ich Sie ins Trockne.«
    Sie blickte ihm nach und ihre Zähne begannen zu klappern. Zum Glück war das Meer ruhig. Die Morgennebel hatten sich verzogen und langsam fing die Sonne an zu wärmen. Der Indianer schwamm zum Boot, das in einigen Metern Entfernung auf den Wellen dümpelte, und schwang sich hinein.
    Mit einem Mal waren Hannas Gedanken wieder vollkommen klar und der Schock ließ nach. Ich lebe noch.
    Sie versuchte, ihre Glieder zu bewegen. Ganz langsam. Erst die Finger, die Handgelenke, dann beide Arme. Die Zehen und Fußgelenke. Sie streckte erst ein Bein, dann das andere. Die Bewegungen bereiteten ihr keine Schmerzen. Nichts war gebrochen. Das Meer hatte sie tatsächlich aufgefangen.
    Hanna beugte sich nach vorn und ihr Blick wanderte über die Trauben blauschaliger Muscheln, deren Ränder scharf wie Messer waren. Ohne diesen Mann und seine verrückte Anweisung wäre sie jetzt tot. Hanna schob den Gedanken weit von sich. Sie schlang die Arme um ihre Beine, legte den Kopf auf die Knie und schloss die Augen.
    »Alles klar bei Ihnen?«
    Hanna hob den Kopf. Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Wie lange hatte der Indianer gebraucht, um das Boot zu ihrem Felsen zu manövrieren? Fünf Minuten? Fünfzehn?
    Er half ihr einzusteigen. Hanna klammerte sich an seiner Hand fest, bis sie auf der Bank im Bug saß. Das Boot, ein alter Blechkahn, roch nach Tang und Fisch. Neben einem Netz und einer Angel lagen zwei Teile der kaputten Brüstung, die er aus dem Wasser gefischt hatte. Zu ihren Füßen entdeckte Hanna ein Messer. In einem zerkratzten Plastikeimer die Ausbeute: schwarz schimmernde Miesmuscheln.
    »Das war knapp«, sagte der Indianer und rubbelte sich mit einem alten Handtuch über seine nassen Haare.
    Unwillkürlich wanderte Hannas Blick die Felswand hinauf und sie schauderte. Noch immer konnte sie nicht glauben, was soeben passiert war. Dieses Geländer hatte nagelneu ausgesehen und doch hatte es unter ihrem Gewicht nachgegeben. Sie sah die Stelle, wo die Wurzeln des Strauches sich aus der Felsspalte gelöst hatten.
    »Ich bringe Sie ins Krankenhaus, okay?«
    »Ins Krankenhaus?«, stieß Hanna hervor. Ihr Blick glitt über das Gesicht ihres Retters: länglicher Schädel mit hoher Stirn, schräge Augen, volle Lippen, die Nase gerade und schmal. Seine dichten schwarzen Augenbrauen erinnerten sie an die Schwingen eines Adlers, der zum Flug ansetzt.
    »Vielleicht haben Sie sich verletzt.«
    Sie schüttelte vehement den Kopf. »Nein, ich bin in Ordnung.«
    »Sicher?« Der Indianer runzelte die Stirn und sah sie mit wachsender Skepsis an.
    Sie konnte es ihm nicht verdenken. Vermutlich hatte er sich seinen Vormittag auch anders vorgestellt.
    »Ja, ganz sicher. Mein Wagen steht oben am Kap. Können Sie mich irgendwie dorthin zurückbringen?«
    Offensichtlich erleichtert, nickte er. »Wohnen Sie im Motel?«
    »Ja … das heißt, ich habe es vor. Als ich heute früh in Neah Bay ankam, schlief alles noch.«
    Die Falten auf seiner Stirn wurden noch tiefer.
    »Besser, Sie ziehen die nasse Jacke aus.« Er drehte sich um und ließ den Außenbordmotor an. Eine leichte Benzinwolke stieg Hanna in die Nase. Als er sich ihr wieder zuwandte, sagte er: »Ich heiße übrigens Greg.«
    »Hanna.« Sie versuchte ein Lächeln. »Danke, dass Sie mir geholfen haben.«
    Greg erwiderte ihr Lächeln nicht. Es war nahezu unmöglich, seinem Gesicht zu entlocken, was er dachte.
    Das Boot tuckerte aus der kleinen Bucht. Hanna quälte sich aus der nassen Fleecejacke, was mit ihren klammen Fingern gar nicht so leicht war. Ihr Anblick musste jämmerlich sein: T-Shirt und Jeans trieften, ihre Schuhe hatten sich voll Wasser gesogen und das nasse Haar klebte ihr am Kopf.
    Das Allerschlimmste war jedoch die Kälte.
    Hanna schlang ihre Arme um die Brust, aber dadurch wurde ihr auch nicht wärmer. Wenn sie nicht schnell aus den nassen Kleidern herauskam, würde sie sich eine dicke Erkältung holen. Die Wassertemperatur war gefährlich kalt gewesen.
    Neah Bay ist ein Ort, wo der Ozean auch im Sommer kalt ist, hatte Jim gesagt. Jetzt wusste sie, was er gemeint hatte. Sie musste niesen und hielt sich beide Hände vors Gesicht.
    Greg langte hinter den Sitz und reichte ihr eine dunkelgrüne Windjacke. Die Jacke roch nach Fisch, aber als Hanna sie um ihre Schultern legte, stellte sie fest, dass sie auf der Innenseite gefüttert war. Dankbar sah sie ihren Retter an. Das weiße T-Shirt klebte
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