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Qual

Qual

Titel: Qual
Autoren: Greg Egan
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gerade noch erträgliche Miete war nicht mehr als ein günstiger Nebeneffekt des ausgeklügelten Steuersparplans des Eigentümers – und es war vermutlich nur eine Frage der Zeit, bis der Flügelschlag eines Schmetterlings auf den globalen Finanzmärkten die Großzügigkeit der Networks schwinden ließ oder mein Vermieter nicht mehr auf Abschreibungsobjekte angewiesen war. Ich konnte jederzeit mit einem Fußtritt fünfzig Kilometer westwärts versetzt werden, zurück an den äußersten Stadtrand, wo mein angestammter Platz war.
    Ich näherte mich vorsichtig. Mein Zuhause hätte nach den Ereignissen dieser Nacht eigentlich meine Zuflucht sein sollen, doch ich zögerte etwa eine Minute lang an der Vordertür, den Schlüssel in der Hand.
    Gina war bereits aufgestanden, angezogen und mit dem Frühstück beschäftigt. Ich hatte sie seit ziemlich genau vierundzwanzig Stunden nicht gesehen. Es war beinahe, als wäre ich gar nicht fortgewesen.
    »Hast du gute Bilder gemacht?« fragte sie. Ich hatte ihr aus dem Krankenhaus eine Nachricht geschickt und ihr mitgeteilt, daß wir endlich Glück gehabt hatten.
    »Ich möchte nicht darüber reden.« Ich zog mich ins Wohnzimmer zurück und ließ mich in einen Sessel fallen. Die Tätigkeit des Hinsetzens erzeugte ein Echo in meinem Innenohr. Ich erlebte immer wieder, wie ich mich niedersinken ließ. Als ich meinen Blick auf das Muster des Teppichs konzentrierte, ließ die Illusion allmählich nach.
    »Andrew? Was ist geschehen?« Sie war mir ins Wohnzimmer gefolgt. »Ist etwas schiefgegangen? Mußt du nochmal drehen?«
    »Ich sagte, ich möchte nicht…« Dann riß ich mich zusammen. Ich blickte zu ihr auf und zwang mich zur Konzentration. Sie war verwirrt, aber noch nicht wütend. Regel Nummer drei: Erzähle ihr alles bei der erstbesten Gelegenheit, ganz gleich, wie unangenehm es sein mag. Alles andere wird dazu führen, daß sie sich ausgeschlossen und persönlich beleidigt fühlt.
    Also sagte ich: »Ich muß nicht noch einmal drehen. Es ist vorbei.« Dann erzählte ich ihr, was geschehen war.
    Gina schien sich unwohl zu fühlen. »Und war das, was er sagte, die… Prozedur wert? Ergibt es irgendeinen Sinn, daß er seinen Bruder erwähnte – oder waren es nur die verworrenen Gedanken eines geschädigten Gehirns?«
    »Das steht noch nicht fest. Anscheinend neigt sein Bruder tatsächlich zu Gewalttätigkeiten, denn er wurde zu einer Bewährungsstrafe wegen eines Angriffs auf seine Mutter verurteilt. Man wird ihn zu dieser Sache befragen… aber vielleicht hat es nichts zu sagen. Wenn das Kurzzeitgedächtnis des Opfers bereits ausgelöscht war, hat sein Gehirn möglicherweise nur die nächstliegende Person mit dem Messerstich in Verbindung gebracht, die seiner Ansicht nach zu einer solchen Tat fähig sein könnte. Und als er seine Aussage abänderte, hat er vielleicht gar nicht versucht, etwas zu vertuschen, sondern einfach nur erkannt, daß er sein Gedächtnis verloren hat.«
    »Selbst wenn der Bruder ihn tatsächlich getötet hat«, überlegte Gina, »würde kein Gericht ein paar zusammenhanglose Worte, die nach einer sofortigen Wiederbelebung geäußert wurden, als Beweis anerkennen. Wenn es zu einem Urteil kommt, wird es sich nicht auf die Prozedur stützen.«
    Es war schwierig, gegen diese Behauptung zu argumentieren. Ich mußte mich anstrengen, um die Perspektiven zu überschauen.
    »Zumindest nicht in diesem Fall. Doch bei einigen Gelegenheiten war die Befragung ausschlaggebend. Die Aussagen des Opfers allein haben juristisch kein großes Gewicht – aber es wurden Mordanklagen gegen Personen erhoben, die andernfalls niemals in Verdacht geraten wären. In diesen Fällen hat man die entsprechenden Beweise erst gefunden, nachdem die Ermittlungen durch die Aussagen des Opfers in die richtige Richtung gelenkt wurden.«
    Gina war offensichtlich nicht überzeugt. »Das mag ein- oder zweimal geschehen sein, aber letztlich ist es den Aufwand nicht wert. Man sollte diese Prozedur verbieten, denn sie ist pervers.« Sie zögerte. »Du wirst diese Aufnahmen doch nicht verwenden, oder?«
    »Natürlich werde ich sie verwenden.«
    »Du willst einen Menschen zeigen, der unter Qualen auf dem Operationstisch stirbt? Jemanden, der erkannt hat, daß das, was ihn noch einmal zum Leben erweckt hat, ihn unausweichlich töten wird?« Sie sprach mit ruhiger Stimme. Sie klang eher fassungslos als erzürnt.
    »Was soll ich deiner Meinung nach statt dessen tun?« fragte ich. »Eine Dramatisierung
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