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Qual

Qual

Titel: Qual
Autoren: Greg Egan
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alle Mühe, zu veranschaulichen, wie lange und mühsam ihre Vorfahren darum kämpfen mußten, all das zu erkennen und erlernen, was die Kinder heute selbstverständlich hinnehmen: daß Gesetz und Moral, Physik und Metaphysik, Raum und Zeit, Freude, Liebe, Bedeutung… einzig in der Verantwortung der Beteiligten liegen. Es gibt keine unbeweglichen Zentren, die das Absolute wie Manna austeilen. Es gibt keinen Gott, keine Gaia, keine wohltätigen Herrscher. Keine Realität, sondern nur ein durch Erklärung geschaffenes Universum. Keinen Sinn des Lebens, solange wir ihn nicht selbst bestimmen, ob gemeinsam oder allein.
    Jemand fragt nach dem Aufruhr in den Tagen nach dem Aleph-Moment.
    Ich sage: »Die Wahrheit war für alle nur schwer zu verdauen. Für die orthodoxen Wissenschaftler – weil sich herausgestellt hatte, daß die Basis der UT nur durch ihre eigene Kraft der Erklärung geschaffen worden war. Für die Ignoranzkulte, weil selbst das partizipatorische Universum, eine Realität mit größtmöglicher Subjektivität, keine Synthese ihrer Lieblingsmythen darstellte – durch die niemals etwas hätte erschaffen werden können –, sondern das Produkt eines universellen wissenschaftlichen Verständnisses dessen, was Koexistenz wirklich bedeutete. Selbst die Anthrokosmologisten hatten sich getäuscht, denn sie waren so sehr von der Idee einer einzigen Schlüsselfigur besessen, daß sie kaum über die Möglichkeit nachgedacht hatten, daß genauso jeder andere diese Rolle spielen konnte. Sie hatten die stabilste und symmetrischste Lösung übersehen, nach der jeder Geist der UT gehorcht – aber alle gemeinsam notwendig sind, um sie zu erschaffen.«
    Ein aufgeweckter Zuhörer erkennt, daß ich dem Thema ausweiche – ein Kind, das ich als ›menschlich‹ beschrieben hätte, in den Tagen, bevor das große Wort explodiert und endlich verstanden worden war: Die UT ist alles, was wir miteinander gemeinsam haben.
    »Die meisten Menschen waren doch keine Wissenschaftler, Kultisten oder Anthrokosmologisten. Sie waren gar nicht von diesen Ideen betroffen. Warum also waren sie so traurig?«
    Traurig. Es hatte neun Millionen Selbstmorde gegeben. Neun Millionen Menschen, die wir nicht amLeben erhalten konnten, als sich jede Illusion einer festen Basis verflüchtigte. Und ich bin mir immer noch nicht sicher, ob es wirklich keinen anderen Weg gegeben hätte – ob ich die einzige mögliche Brücke in den Informationskosmos gefunden hatte. Wenn ich dem Wahnsinn der Qual anheimgefallen wäre, hätte dann jemand anderer eine andere letzte Frage gestellt und einen anderen Ausweg gefunden?
    Niemand hat Anklage gegen mich erhoben, niemand hat über mich geurteilt. Ich bin niemals als Verbrecher verdammt oder als Erlöser geehrt worden. Die Vorstellung, daß eine einzige Schlüsselfigur zehn Milliarden Menschen durch Erklärung erschaffen konnte, hat sich längst als absurd erwiesen. Rückblickend wird Qual genauso wie die naive Illusion betrachtet, daß sich jede Galaxis von uns entfernt – während es in Wahrheit gar kein Zentrum gibt, es gar keins geben kann.
    Ich komme zögernd auf das Lamont-Zentrum zu sprechen. »Es machte die Menschen glauben, daß sie sich gegenseitig kannten, daß sie für andere sprechen konnten, daß sie sich verstehen konnten – in viel größerem Maße, als es tatsächlich möglich war. Einige von euch haben es vielleicht noch im Gehirn – doch angesichts der Beweise läßt es sich jetzt leichter ignorieren.«
    Ich versuche ihnen die Illusion der Intimität zu erklären – und wieviel die Menschen früher darin investierten. Sie hören höflich zu, aber ich erkenne, daß es für sie überhaupt keinen Sinn ergibt, denn sie wissen ganz genau, daß sie nichts verloren haben. Die Liebe im Angesicht der Wahrheit ist stärker als je zuvor. Glück war noch nie auf die alten Lügen angewiesen.
    Zumindest nicht für diese Kinder, die ohne Krücken auf die Welt gekommen sind.
    In Akilis Haus inmitten des üppigen gentechnischen Dschungels von Malawi hatte ich hie gesagt, daß ich starb. Nach dir hat es niemanden gegeben. Und wir hatten uns ein letztes Mal berührt.
    Ich wechselte schnell zum nächsten Thema.
    »Andere Menschen«, füge ich hinzu, »beklagten das Ende des Geheimnisses. Als ob nichts mehr zu entdecken übrig wäre, nachdem wir verstanden haben, was zu unseren Füßen liegt. Es ist wahr, daß es keine weiteren grundlegenden Überraschungen mehr gibt, daß wir nichts mehr über die Gründe der UT oder
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