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Qual

Qual

Titel: Qual
Autoren: Greg Egan
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Zuerst war es, als würde ich einen Text mit glasigen Augen überfliegen, um mich dann bewußt darauf zu konzentrieren – doch schon nach kurzer Zeit gewöhnte ich mich daran.
    Das war die Welt, wie ich sie schon immer hatte sehen wollen: majestätisch schön, kompliziert und fremdartig – aber im Grunde harmonisch und damit letztlich begreifbar.
    Es war nichts Erschreckendes. Und es war auch nichts Ehrfurchtgebietendes.
     
    Die Vermischung drang immer tiefer vor.
    Ich wurde mir meiner eigenen Körperlichkeit bewußt, meines eigenen Wesens, das in der UT festgeschrieben war. Die Verbindungen, die ich in der Welt gesehen hatte, reichten auch in mich hinein und verknüpften mich mit allem in meiner Umgebung. Es gab immer noch keinen Röntgenblick, keinen Doppelhelixtraum – aber ich spürte die unwandelbare Grammatik der UT in meinen Gliedmaßen, in meinem Blut, im dunklen Gleiten meines Bewußtseins.
    Es war dieselbe Lektion, die mir die Cholera erteilt hatte – nur stärker und deutlicher. Ich bestand aus Materie – genauso wie alles andere.
    Ich konnte den allmählichen Zerfall meines Körpers spüren, die absolute Gewißheit des Todes. Jeder Herzschlag formulierte einen Beweis der Sterblichkeit. Jeder Augenblick war ein Stückchen Begräbnis.
    Ich atmete tief durch und studierte die Ereignisse, die auf diese Inhalation folgten. Ich konnte die Süße des Duftes und die Abkühlung der Nasenschleimhäute verfolgen, die befriedigende Erfüllung der Lungen, den Strom des Blutes, die Klarheit, die ans Gehirn vermittelt wurde… und zurück in die UT floß.
    Meine Klaustrophobie verflüchtigte sich. Dieses Universum zu bewohnen – mit allem zu koexistieren – es hatte einen Sinn. Die Physik war kein Gefängnis, die Grenzen zwischen dem Möglichen und Unmöglichen waren lediglich das Minimum, das die Existenz erforderte. Und die gebrochene Symmetrie der UT – die aus den unendlichen, lähmenden Möglichkeiten des Prä-Raums gehauen war – stellte den festen Boden dar, auf dem ich stand.
    Ich war eine absterbende Maschine aus Zellen und Molekülen. Daran würde ich nie wieder zweifeln können.
    Aber es war nicht der Weg in den Wahnsinn.
     
    Die Vermischung zeigte mir noch viel mehr. Die introspektiven Botschaften wurden immer reichhaltiger. Ich hatte die Fäden der Erklärung gelesen, die von der UT ausgingen und mich mit der Welt verbanden – doch jetzt krümmten sich die Fäden, die meine Gedanken erklärten, zu ihrer Quelle zurück. Also verfolgte ich sie und verstand, was mein eigener Geist durch sein Verständnis erschuf:
    Interagierende Symbole, die in Form von Energieimpulsen auf Nervenbahnen codiert waren. Regeln des Wachstums und der Verknüpfung von Dendriten, der synaptischen Anpassungen, der Verteilung von Neurotransmittern. Eine Chemie der Membranen, Ionenpumpen, Proteine, Amine.
    All die Einzelheiten des Verhaltens von Molekülen und Atomen, all die Gesetze, die ihre notwendigen Bestandteile regelten. Schicht um Schicht aus konvergierenden Regelmäßigkeiten…
    … bis hinunter zur UT.
    Es gab keine Arena der desinteressierten Physik. Es gab keine solide Ebene objektiver Gesetze. Nur ein tief unten zirkulierender Konvektionsstrom der Erklärung, ein kausales Magma, das aus der Unterwelt heraufquoll, um wieder in der Dunkelheit zu versinken, das einen Kreislauf von der UT zum Körper und zum Geist und wieder zur UT beschrieb – von nichts weiter als dem Motor der Erkenntnis angetrieben.
    Es gab keinen festen Boden, keinen Fixpunkt, keinen Ort der Ruhe.
    Ich mußte auf ewig Wasser treten.
    Ich ging in die Knie, als ich von Schwindel erfaßt wurde. Ich legte mich flach auf den Boden, um mich am Riff-Fels festzuklammern. Die kühle Festigkeit des Bodens widerlegte keine Erkenntnis.
    War es denn nötig? Er war dauerhaft, ganz gleich, ob ich von unerschütterlichen, zeitlosen Gesetzen aufrechterhalten wurde, oder ob ich mich durch die Erklärung an den eigenen Haaren festhielt.
    Ich dachte an die Inseltaucher, die durch jede Schicht der unnatürlichen Ökologie, die diese Insel über Wasser hielt, hinabgestiegen waren, die miterlebt hatten, wie der Ozean unablässig von unten am Fels nagte.
    Sie hatten es überstanden – benommen, aber glücklich.
    Ich konnte es auch schaffen.
     
    Ich kam unbeholfen auf die Beine. Ich dachte, daß es vorbei war, daß ich die Vermischung unbehelligt überstanden hatte. Kaspar konnte nicht zur Schlüsselfigur geworden sein, und dennoch mußte der Aleph-Moment ohne
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