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Qual

Qual

Titel: Qual
Autoren: Greg Egan
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    Ich ging weiter, während ich las und halb bewußt denselben Weg nahm, den ich vor etwa acht Stunden gelaufen war. Der Riff-Fels hatte durch das Beben keine Risse bekommen, doch die Beschaffenheit des Bodens schien sich auf subtile Weise verändert zu haben. Vielleicht waren die Polymer-Ketten durch die Druckwellen neu ausgerichtet worden, wodurch sich ein neues Mineral gebildet hatte – die erste geologische Metamorphose dieser Insel.
    Draußen in der Einöde, weit weg von allen Fraktionen der Anthrokosmologisten, vom sorgenlosen Jubel der Anarchisten und von den immer zahlreicher werdenden Meldungen über Qual wußte ich nicht mehr, woran ich eigentlich glaubte. Wenn ich das Gewicht der zehn Milliarden Menschen gespürt hätte, die rings um mich herum in den Wahnsinn stürzten, wäre ich bestimmt gelähmt gewesen. Meine Rettung war offenbar zum Teil eine nach wie vor anhaltende Skepsis und zum anderen Teil reine Neugier. Wenn ich mich angesichts der Tragweite all dessen, was angeblich auf dem Spiel stand, der angemessenen menschlichen Reaktion hingegeben hätte, nämlich blinder Panik und ehrfürchtiger Demut, hätte ich den vergifteten Kelch in Form des Notepads fortgeworfen.
    Also leerte ich meinen Geist von allem anderen und ließ nur noch die Worte und Gleichungen auf mich einwirken. Der Kaspar- Softklon hatte gute Arbeit geleistet, denn es bereitete mir keine Probleme, den Artikel zu verstehen.
    Der erste Abschnitt enthielt keinerlei Überraschungen. Er faßte Mosalas zehn kanonische Experimente zusammen und stellte die Methode vor, wie sie ihre symmetriebrechenden Eigenschaften berechnet hatte. Der Abschnitt endete mit der UT-Gleichung, die alle zehn Parameter der Symmetriebrechung zu einer Summe sämtlicher Topologien verknüpfte. Das Maß, das Mosala zur Gewichtung jeder Topologie gewählt hatte, war die einfachste, eleganteste und offensichtlichste aller Möglichkeiten. Ihre Gleichung verlieh der Erstarrung des Universums aus dem Prä-Raum zwar keine ›Unvermeidlichkeit‹, wie sie von Buzzo und Nishide angestrebt worden war, aber sie zeigte, wie die zehn Experimente – und damit auch alles von der Eintagsfliege bis zum kollabierenden Stern – miteinander verknüpft waren und wie sie koexistieren konnten. In einem imaginären Raum größter Abstraktion besetzten alle diese Dinge nämlich genau denselben Punkt.
    Auch Vergangenheit und Zukunft waren miteinander verknüpft. Bis hinunter zum Niveau der Quantenzufälligkeiten beschrieb Mosalas Gleichung die gemeinsame Ordnung in jedem Prozeß von der Faltung eines Proteins bis zur Entfaltung der Schwingen eines Adlers. Sie stellte den Fächer der Wahrscheinlichkeiten dar, der alle Systeme zu jedem Zeitpunkt mit allem verknüpfte, was sich daraus entwickeln konnte.
    Im zweiten Abschnitt hatte Kaspar die Datenbanken nach Referenzen derselben Mathematik, nach Resonanzen derselben Abstraktionen abgesucht, und diese gewissenhaft auf Vollständigkeit bedachte Suche hatte so viele Parallelen zur Informationstheorie zu Tage gefördert, daß die UT noch einen Schritt weiter getrieben werden konnte. Alles, was Mosala verschmäht hätte – und was Helen Wu niemals zu kombinieren gewagt hätte – war von Kaspar gleichmütig zusammengebracht worden.
    Ohne Physik konnte es keine Information geben. Wissen mußte immer in irgendeiner Form codiert werden. Ob Zeichen auf Papier, Knoten in einer Schnur oder Ladungen in einem Halbleiter.
    Und ohne Information konnte es keine Physik geben. Ein Universum voller zufälliger Ereignisse wäre gar kein Universum. Eine Grundordnung und ausgeprägte Regelmäßigkeiten waren die Basis für jede Existenz.
    Nachdem Kaspar also bestimmt hatte, welche physikalischen Systeme einem Universum gemeinsam sein konnten, hatte er die Frage gestellt: Durch welche Informationsmuster ließen sich diese Systeme kodieren?
    Eine zweite analoge Gleichung hatte sich ohne besondere Mühe aus derselben Mathematik ergeben. Die informationstheoretische UT war die zweite Seite der physikalischen UT, eine zwangsläufige Folge der ersten.
    Dann hatte Kaspar diese beiden Gleichungen vereinheitlicht, sie wie zwei Spiegelbilder zur Deckung gebracht (und trotz allem hatte ich das Gefühl, daß unsere Heldin der Symmetrie stolz auf diese Leistung gewesen wäre), worauf plötzlich sämtliche Vorhersagen der Anthrokosmologie herausgepurzelt waren. Zwar unterschied sich die Terminologie – da Kaspar, ohne von den unveröffentlichten
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