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Qual

Qual

Titel: Qual
Autoren: Greg Egan
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fortsetzen zu können. Es ging um alles oder nichts, um Abbrechen oder Weitermachen.
    »Die Schwester besorgt ein Schmerzmittel«, sagte Lukowski sanft. »Haben Sie Geduld, es wird nicht lange dauern. Aber sagen Sie mir bitte, wer das Messer hatte!« Jetzt glänzten die Gesichter beider Männer vor Schweiß. Lukowskis Arm war bis zum Ellbogen rot. Ich dachte: Wenn du auf dem Bürgersteig vor einem Sterbenden in einer Blutlache stehst, würdest du ihm dieselben Fragen stellen, nicht wahr? Und ihm dieselben Lügen auftischen, um ihn zu beruhigen?
    »Wer war es, Danny?«
    Mein Bruder.
    »Ihr Bruder hatte das Messer?«
    Nein. Ich kann mich nicht erinnern, was geschehen ist. Fragen Sie mich später noch einmal. Jetzt bin ich noch zu sehr durcheinander.
    »Warum haben Sie gesagt, daß es Ihr Bruder war? War er es, oder war er es nicht?«
    Natürlich war er es nicht. Erzählen Sie niemandem, ich hätte so etwas gesagt. Damit bringen Sie mich nur durcheinander. Könnte ich jetzt das Schmerzmittel haben? Bitte.
    Sein Gesicht bewegte sich und erstarrte, es bewegte sich und erstarrte, wie eine Abfolge von Masken, was seinem Leid etwas Stilisiertes, Abstraktes gab. Er bewegte seinen Kopf vor und zurück, zunächst nur schwach, dann mit geradezu manischer Geschwindigkeit und Heftigkeit. Ich vermutete, daß er eine Art Anfall hatte, daß die Wiederbelebungsmittel irgendwelche beschädigten Nervenbahnen überreizten.
    Dann hob er die rechte Hand und riß die Bandagen über den Augen fort.
    Er hörte sofort mit den Kopfbewegungen auf. Vielleicht war seine Haut überempfindlich geworden, so daß er die Augenbinde nicht mehr ertragen konnte. Er blinzelte einige Male und starrte dann zur Deckenbeleuchtung hinauf. Ich sah, wie seine Pupillen sich zusammenzogen, wie seine Augen sich gezielt bewegten. Er hob ein wenig den Kopf und musterte Lukowski, dann blickte er auf seinen eigenen Körper und dessen ungewöhnliche Verzierungen: das farbige Kabel des Schrittmachers, die dicken Blutversorgungsschläuche aus Plastik, die Messerwunden voller blaßweißer Maden. Niemand rührte sich, niemand sagte ein Wort, während er die Nadeln und Elektroden betrachtete, die in seiner Brust steckten, die seltsame rosafarbene Flüssigkeit, die aus seinen Wunden sickerte, seine zerstörten Lungen, die künstliche Luftzufuhr. Der Bildschirm befand sich hinter ihm, aber alles andere konnte er mit einem einzigen Blick erfassen. Es war nur eine Sache von Sekunden, bis er verstanden hatte. Ich konnte geradezu beobachten, wie die Erkenntnis über ihn kam.
    Er öffnete den Mund und schloß ihn wieder. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich in rascher Folge. Nach dem Schmerz kam ein plötzliches Erstaunen und dann die beinahe amüsierte Erkenntnis der Fremdartigkeit der Situation. Vielleicht war darin auch eine Spur von Bewunderung für die perverse Virtuosität, mit der man seinetwegen diese Anstrengungen unternommen hatte. Einen Moment lang wirkte er tatsächlich wie jemand, der sich über einen genialen, boshaften, blutigen Scherz, der auf seine Kosten ging, amüsierte.
    Dann sagte er deutlich, nur unterbrochen von gezwungenen, roboterhaften Keuchern: »Ich… glau… be… nicht… daß… das… eine… gute… Idee… war… ich… wer… de… nichts… mehr… sa… gen.«
    Er schloß die Augen und ließ sich auf den Operationstisch zurückfallen. Seine Werte gingen rapide nach unten.
    Lukowski drehte sich zur Pathologin um. Er war kreidebleich, aber er hielt immer noch die Hand des Jungen fest. »Wie konnte seine Netzhaut reaktiviert werden? Was haben Sie gemacht? Sie dumme …« Er hob seine freie Hand, als wollte er sie schlagen, führte die Bewegung aber nicht zu Ende. Auf dem T-Shirt des Bioethikers stand nun: EWIGE LIEBE IST EIN KUSCHELTIER, DAS AUS DER DNS DEINES LIEBESPARTNERS GEKLONT IST.
    Die Pathologin ließ sich den Vorwurf nicht gefallen und schrie zurück: »Aber Sie mußten ihn drängen! Sie mußten immer wieder von seinem Bruder anfangen, während sein Streßhormonindex längst in den roten Bereich geklettert war!« Ich fragte mich, wer entschieden hatte, wie hoch der normale Adrenalinpegel für jemanden liegen sollte, der keine weiteren Probleme hatte, außer daß er an einer Stichverletzung gestorben war. Irgend jemand hinter meinem Rücken stieß eine Kette zusammenhangloser Obszönitäten hervor. Ich drehte mich um und sah, daß es der Sanitäter war, der seit dem Eintreffen der Ambulanz nicht von Cavolinis Seite gewichen war. Mir war
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