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Carpe Somnium (German Edition)

Carpe Somnium (German Edition)

Titel: Carpe Somnium (German Edition)
Autoren: Andy Marino
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1

Das Mädchen mit dem blauen Zopf
    Ihr neuer Name war Mistletoe. An ihrem fünfzehnten Geburtstag verkündete sie ihrem Betreuer Jiri, dass sie es satthabe, Anna genannt zu werden.
    Er grunzte. »Anna ist nun mal dein Name.«
    »Wer hat den ausgesucht?«
    »Deine Mutter und dein Vater.«
    »Und wo sind die?«
    Er hob eine buschige Augenbraue. »Okay. Und wie willst du ge–«
    »Mistletoe.«
    Sie las es in seinem Gesicht:
völlig beknackt.
Daher fügte sie hinzu: »Die Sache ist die: Für mich bin ich ab jetzt Mistletoe, also wenn du mich Anna nennst, antworte ich nicht. Weil das nicht mein Name ist.«
    Ihr Blick funkelte, als sie ihn resigniert die Augen verdrehen sah, denn das bedeutete, dass sie gewonnen hatte. Jiri tauchte seine dicken Finger wieder in das hoffnungslose Gewirr aus Drähten, das früher einmal ein waschechter Prä-Unison-Computer gewesen war. Mistletoe trat hinaus auf den Balkon. Sie legte sich auf den Rücken und starrte nach oben durch die Luftlöcher in dem Plastahl-Sphärenschild, der Little Saigon davon abhielt, sich in den oberen Teil von Eastern Seaboard City zu erheben. Sie wohnte mit Jiri ganz oben auf einem Berg aus notdürftigen Hütten, neben dem bis hinunter zur Straße ein dreißig Stockwerke tiefer Abgrund gähnte. Ihre Baracke war so dicht unter den Schild gezwängt, dass es Mistletoe vorkam, als könnte sie das Gewicht der Oberstadt auf sich lasten fühlen, wenn sie schlief.
    Sanft wiegte sie den Kopf hin und her, bis ihr weicher blauer Zopf flach wurde wie ein Kissen. Die Luftlöcher waren nicht größer als Jiris Faust, doch wenn sie genau an der richtigen Stelle lag, konnte sie schimmernde Autos wie zusammengepresste Zahnreihen millimeterdicht aneinander vorbeigleiten sehen. Das Summen von einer Milliarde Pendlern, gebändigt von Eastern Seaboard Citys Verkehrskontrollsystem, hallte durch die Luftlöcher herab und rüttelte wohltuend an ihren Eingeweiden, wie die Prä-Unison-Massagesessel, die Jiri in seinem Trödelladen verkaufte. Während sich über dem Schild der Spätnachmittag in karmesinroter Dämmerung auflöste, zog es sie in einen unruhigen Traum …
    Der Raum war düster und eiskalt. Sie lag festgeschnallt auf einer Platte, im Innern einer Metallröhre so groß wie ein Kühlschrank. Altertümliche Schüsse, primitiv und dröhnend, knallten zwischen fernen Rufen. Die dumpfen Laute von Disruptorwaffen wurden zu hektischen Schritten. Eine sanfte Stimme sagte: »Hab keine Angst, Anna.«
    Schnitt, neue Szene. Sie bewegte sich jetzt ruckartig auf und ab. Eine Schlange glitt über ihre Schulter. Nein, zwei Schlangen. Drei! Sie schrie und begriff, dass etwas sie bedeckte, ihr Gesicht vergraben war in den Falten eines schmierigen, übel riechenden Männermantels. Sie wand sich, und der Mann presste sie enger an seine Brust. Überall um sie herum waren Schlangen. Sie versuchte, in die fleischige Hand zu beißen. Der Mann fluchte in einer fremden Sprache.
Jiri!
Er lief schneller, als sie es je für möglich gehalten hätte, drückte sie mit der einen Hand fest an seinen Leib, während die andere über die Schulter nach hinten eine Pistole abfeuerte. Sie zog einen Arm hervor und bekam eine der Schlangen zu fassen. Sie war glatt und metallisch, irgendeine Art Draht. Sie tastete sich daran entlang, bis ihre Hand ihre Stirn erreichte.
    Aus ihrem Gesicht sprossen Drähte.
    Sie schrie und schlängelte sich aus Jiris Griff, dann fiel sie und fuchtelte wild mit den Armen im leeren Raum. Sie erwachte, ehe sie auf dem Boden aufschlug, saß kerzengerade auf dem Balkon, die Hände keuchend an die Schläfen ihres drahtlosen Kopfes gepresst.
    Heute, sechs Monate später, saß Mistletoe auf dem Balkon und lehnte mit dem Rücken an Nelson, dem klapprigen Scooter, den sie aus Jiris Trödelladen gerettet hatte. In der Stadt oberhalb des Sphärenschilds war Nelson vermutlich das ausrangierte Spielzeug irgendeines reichen Kids gewesen. Hier unten, subsphärisch in ihrem übervölkerten Wohnviertel, war er ein Schatz, der es wert war, dass sie ihn mit ihrem Leben beschützte. Die vier elektrostatischen Ionen-Auftriebe am Unterboden waren allerfeinste ESC -Technologie. Ihr Freund Sliv hatte das rasselnde Getriebe ersetzt und die Lenkung justiert. Sie ließ den Scooter nur selten aus den Augen.
    »Ich hatte gestern Nacht wieder diesen Traum, Nelson.«
    Der Scooter blieb stumm. Er hatte keine KI -Komponenten und konnte weder hören noch reagieren. Gespräche zwischen Mistletoe und Nelson verliefen
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