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Pulverturm

Pulverturm

Titel: Pulverturm
Autoren: Jakob Maria Soedher
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anwesend war. Ein älterer Herr mit schütterem weißen Haar ergriff das Wort. Schielin hörte ihn reden von der Natur und der ihr innewohnenden Vergänglichkeit, von der Zeit an sich und im Besonderen – deren Vergehen durch die Erwähnung einer Sanduhr bildhaft dargestellt wurde. Mit ernster Miene wurden einige Zeilen von Hesse zitiert, von fallenden Blättern war die Rede, der Name Goethe fiel, und vielleicht wurden auch einige Zeilen aus dessen reichem Schaffen über die Anwesenden geworfen.
    Schielin hatte zuvor noch an den Liederhort gedacht. An die Reutiner Blaskapelle, an die Musik, die Ottmar Kinker sicher Freude gemacht hatte. Nichts von alledem war hier wiederzufinden. Ottmar Kinker war tot, und die Zurückgebliebenen wären ob dieser Veranstaltung trostlos geblieben, hätten sie denn Trost gesucht.
    Doch Schielin bekam von alledem nichts mehr mit. Er stand da und starrte gebannt auf das Häuflein Menschen vor dem Grab. In der Mitte stand, auf einen Krückstock gestützt, Meta Kinker mit versteinerter Miene – kalt, unerschrocken, eine selbstgewisse Zeitfresserin. Die Menschen um sie herum hielten Abstand. Niemand wagte es, ihr zu nahe zu kommen, niemand stützte sie – weshalb denn auch. Rechts von ihr stand etwas verloren ein Mann um die Fünfzig in dunklem Anzug. Sicher einer von Kinkers Dienststelle, dachte Schielin. Links daneben stand Helmtraud Kinker, verzweifelt, voller Angst und Furcht. Sie konnte nicht ruhig stehen. Mit ihrer rechten Hand strich sie ruhelos über den schwarzen Rock.
    Was Schielins Blick aber bannte, war der schlanke Mann, unter dessen Arm sich Helmtraud Kinker eingehakt hatte. Er war viel jünger als sie. Schielin schätze ihn auf Ende dreißig. Es musste der Mutter Schwesterkind sein, denn in seinem Gesicht fanden sich die gleichen missmutigen Züge, die bei seiner Cousine im Übermaß ins Licht der Welt gesetzt wurden. Und bei ihm gesellte sich zum Missmut noch die Härte aus Meta Kinkers Zügen. Er war es also, der die Organisation der Beerdigung übernommen hatte – wie hatte Helmtraud Kinker noch gesagt: meiner Mutter Schwesterkind , dachte Schielin und starrte auf die faltige dunkle Stoffhose, die an den dünnen Beinen flatterte, sah den dunklen Wollmantel, der die abstoßende Gestalt umhüllte – und er sah dieses kleine Detail, das ihn vorübergehend schockierte.
    Kaum hatte der professionelle Leichenprediger seinen Schmus beendete und sich theatralisch vor dem Sarg verneigt, verließ Schielin den Friedhof und telefonierte am Parkplatz mit der Dienststelle. Lydia Naber und Wenzel waren drei Minuten später vor Ort und hörten – zuerst interessiert, dann ungläubig – Schielins wenigen Worten zu.

    Als Meta Kinker, gefolgt von Tochter und Meiner-Mutter-Schwesterkind aus dem Friedhof traten, kamen ihnen Schielin und die anderen entgegen.
    Conrad Schielin wendete sich direkt an die bleiche, hagere Gestalt, an deren Arm immer noch Helmtraud Kinker hing, die ihr stummes Erschrecken über Schielins Auftauchen nicht mehr versteckt halten konnte. Es äußerste sich in krampfhaften Bewegungen, sodass ihr Cousin Mühe hatte, von dem Zerren nicht mitgerissen zu werden.
    Schielin musste sich zusammenreißen, sein Herz schlug bis in die Ohren vor Aufregung und Zorn. »Ich möchte Sie bitten, mitzukommen«, brachte er trotzdem fest und sicher heraus.
    »Und warum?«, fragte sein Gegenüber ohne Angst.
    Schielin hob langsam seine rechte Hand, fuhr den Zeigefinger aus und ließ ihn gegen die Brust von Helmtraud Kinkers Cousin fahren, die inzwischen laut schluchzte.
    »Ihnen fehlt hier ein Knopf, Meiner-Mutter-Schwesterkind!«
    Er nahm den Finger wieder weg und sagte. »Geiz ist ein Strang der Seel – und alles Bösen Königin.«
    Helmtraud Kinker brach zusammen. Ihre Mutter ging ungerührt weiter.
    *
    Am Abend, die Dämmerung war schon wieder hereingebrochen, hielt ein Taxi vor dem Eingang des Friedhofs. Yulia Kavan stieg aus. Sie war alleine. Mit zaghaften Schritten suchte sie den Weg zum Grab. Nadja saß im Geschäftszimmer der Kripo Lindau und verfolgte Erich Gommert, der auf der Computertastatur schrieb und ab und an einen freundlichen Blick auf das scheue Mädchen warf.
    Im Vernehmungsraum saßen Schielin, Lydia Naber und Wenzel. Ihnen gegenüber hockte ein regungsloser Waldemar Kunze. Dessen alter, abgewetzter Mantel lag in einer Ecke, verpackt in eine klarsichtige Plastiktüte. Man musste kein Sachverständiger sein, um festzustellen, dass der in einem kleineren Beutel
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