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Pulverturm

Pulverturm

Titel: Pulverturm
Autoren: Jakob Maria Soedher
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Haare nach hinten. Sie trug einen blauen Mantel, feste Winterschuhe und war vielleicht zehn Jahre alt.
    Er hatte keine Kinder, auch wenig mit Kindern zu tun, und war sich deshalb nicht sicher, ob er ihr Alter richtig schätzte. Er wusste auch nichts zu sagen, so überraschte ihn diese Unbekümmertheit, der er hier gegenüberstand. Daher schwieg er, ließ die Kleine aber nicht aus den Augen.
    »Du hast hier geschlafen, gell«, kicherte sie.
    Er schüttelte den Kopf. Eigentlich hätte er nun doch etwas sagen wollen, doch es fiel ihm nichts ein. Was hätte er denn auch schon sagen sollen. Er räusperte sich und sah betreten auf den See hinaus.
    Sie verschränkte die Arme und sah ihn unverhohlen an. »Ich heiße Nadja«, sagte sie, als wolle sie ihn trösten, »wie heißt du?«
    »Ottmar.«
    Die Kleine lachte ohne Hemmung. »So heißt heute niemand mehr.«
    Ottmar nickte.
    Von hinten hörte er eilige, energische Schritte, die den Kies zum Knirschen brachten, bald darauf ein Schnaufen.
    »Nadja! Wieso wartest du nicht. Wieso wartest du nicht!«
    Die nächste Frage war an ihn gerichtet. Mit einer Spur Aggressivität. »Was machen Sie hier!?«
    Er drehte sich zur Seite und musste blinzeln. Obwohl sie sehr herausfordernd gefragt hatte, verlieh ihr osteuropäischer Akzent ihrer Stimme einen weichen Klang.
    Er zuckte mit den Schultern und sah sie an. »Ich sitze hier.«
    »Sitzen hier …«, wiederholte sie misstrauisch und mit abweisendem Blick. Es war nicht schwer für ihn, ihre Gedanken zu erraten.
    »Er hat nur geschlafen. Ich habe ihn geweckt«, sagte Nadja schuldbewusst. Ihre Mutter schwieg und atmete laut aus. Es klang erleichtert.
    »Ich gehe hier immer spazieren und bleibe, wenn es schön ist, so wie heute, noch eine Weile sitzen«, erklärte er stockend und wunderte sich, wie viele Worte er zu ihr gesagt hatte. Und es hatte auch völlig normal geklungen, ohne diesen Anflug von Nervosität.
    Sie sah ihn ernst an, nickte und schob Nadja in Richtung Uferweg, um zu gehen. Ihre braunen lockigen Haare glitzerten im Sonnenlicht.
    »I … ich gehe dann immer in ein Café …«, er atmete tief aus, »wenn Sie mitkommen möchten … ich meine, ich möchte Sie einladen.«
    Sie winkte ab und schüttelte energisch den Kopf.
    Nadja rief laut und begeistert. »Ja! Ja!«
    Ihre Mutter schob sie stumm weiter. Die Situation war ihr sichtlich unangenehm.
    Ottmar Kinker erhob sich, wie von unsichtbaren Armen gezogen, und schloss mit wenigen schnellen Schritten zu beiden auf. Die Mantelenden flogen um seine Knie. Er dachte überhaupt nicht darüber nach, was er tat. Es geschah einfach. Wider Erwarten schickte sie ihn nicht fort. Sagte nichts, sah ihn nicht an, ging einfach weiter und duldete ihn, wie er stumm an ihrer Seite einherging, wenn er auch einen gehörigen Abstand zu ihr hielt. Er wollte schließlich nicht aufdringlich sein. Niemals und niemandem gegenüber wollte er aufdringlich sein. Das war ihm peinlich. Wenn man aufdringlich war, wurde man angesehen, stand man im Mittelpunkt. Das alles wollte er nicht. Aber jetzt, in diesem Augenblick, war es ihm egal, und er wusste, dass er aufdringlich war.
    Sie folgten der Ufermauer hinter dem Bahnhof vorbei in Richtung Leuchtturm. Ein schmuckloser Zaun, dessen Existenz nur darin bestand, ein Zaun zu sein, blattlose Hecken und Bäume in gemessenem Abstand trennten den Weg zum Bahngelände hin ab, wo sich Hallen, Tanks und überholtes technisches Gerät sammelten. Nadja bewunderte die bunten hundegroßen Frösche, die, einen Gänsemarsch imitierend, an einem Eisenmast angebracht waren. Dahinter grüßte die lebensgroße Skulptur eines Esels, der auf einer Loggia im Giebel eines alten Bahnschuppens stand. Jetzt musste auch ihre Mutter lachen, denn der Esel trug einen gestreiften Smoking und wandte das Haupt keck und mit gestreckten Ohren dem Weg zu.
    Ottmar Kinker waren die Figuren, Skulpturen, die lebensfrohen Farben und Fantasiegestalten noch nie aufgefallen. Er hatte immer nur Baumstämme, alte Mauern, den See und die Berge dahinter gesehen. Stumm folgte er den Blicken der beiden, nahm teil an ihrer Welt, sah, was sie sahen, und wollte nur eines – dazugehören.
    Als sie den Hafen erreicht hatten, steuerte er an der Hotelfront vorbei, in die Hintere Metzgergasse, in welcher sich in wohldosierter Abgeschiedenheit und der Straßenbezeichnung trotzend, das Café Vogler befand. Er mochte den heimeligen Eingang vom Inselgraben her. Es war, als käme man nach Hause und nicht so, als betrete
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