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Pulverturm

Pulverturm

Titel: Pulverturm
Autoren: Jakob Maria Soedher
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Unterkiefer, der seinen Kopf nach hinten drückte. Ottmar Kinker wusste nicht, was geschah. Was folgte, war ein hartes Brennen in der Kehle, dann wurde ihm schwindelig. Er wollte etwas sagen, rufen vielleicht, aber was? Er war voller Schrecken. Dann traf ihn der Schlag. Am mittleren Plateau der Treppe blieb er liegen, kam noch einmal auf die Knie, kippte aber wieder zur Seite und glitt die letzten Stufen hinab bis zum Kiesufer. Dort war es dunkel und kalt. Am Horizont hing ein schmaler violetter Streif. Die Gestalt war verschwunden.

Spätes Erwachen
    Nur einen Gedanken von Ottmar Kinkers Ende entfernt, wanderte Conrad Schielin in Begleitung Ronsards völlig losgelöst vom Gang der Dinge, ohne Denken und Sinnen auf einem Waldweg dahin und war glücklich. Er ging schon seit Stunden und hatte jene Phase erreicht, in welcher Geist und Körper die Bewegung nicht mehr bewusst steuerten und wahrnahmen, sondern das Sich-Fortbewegen ein vom bewussten Willen isolierter, rein physischer Vorgang war. Alles zu Überdenkende war gedacht, und er hatte wieder einmal Einklang mit sich selbst hergestellt.
    Diese Akte der Entspannung und geistigen Entleerung waren ihm nur möglich, wenn er sich in der Natur bewegte und gleichsam eingebettet war in ein anderes Konzept der Zeit, als das, was ihm Beruf, Familie und gesellschaftliche Erfordernisse aufzwangen. Schielin betrieb sozusagen autogenes, transzendierendes Eseltrekking.
    Vor Tagen, als er mit der Wanderung begonnen hatte, war das noch anders. Zu viel hatte sich angesammelt, worüber er nachdenken und sich klar werden wollte. So dauerte es fast einen ganzen Tag, bis er so weit war, die Dinge seines Lebens zusammen mit Ronsard bedenken zu können, der das an ihn Herangetragene stumm aufnahm, sorgsam bedachte und ebenso emotionslos Teil der Freude war, wenn sein Begleiter für sich selbst, aber doch für einen sensiblen Esel spürbar, zu einem befriedigenden Ergebnis gekommen war.
    Ronsard wusste, dass sein Begleiter kein leichtes Leben mit den beiden Töchtern hatte. Sie waren ja auch ihm gegenüber eher distanziert und sehr skeptisch. Mit den komischen, oberflächlichen Friesen gingen sie viel offener um.

    Am vierten Tag war es, dass Conrad Schielin wieder einmal in Gedanken darüber versunken war, ob er sich mit der Art und Weise, wie er lebte, auf dem richtigen Weg befand, ob er sich in der Vergangenheit immer richtig entschieden hatte und was hätte werden können, wenn er die eine oder andere Entscheidung anders getroffen hätte.
    Er wanderte einsam den Waldweg entlang und folgte den Spuren seines Lebens, was ihn zu der Erkenntnis führte, dass ein Leben nicht allein dadurch erfüllend war, weil man Lebensentscheidungen richtig oder falsch getroffen hatte. Vielmehr kam er zum Schluss, dass das große Glück darin bestand, Entscheidungen treffen zu können, die Wahl zu haben für das ein oder andere, gleich wie der jeweils eingeschlagene Weg sich gestaltete und bewältigt werden musste. Gerade als er mit dem Ergebnis seiner stillen Zwiesprache zufrieden aufsah, stellte er fest, dass der Weg, den er eingeschlagen hatte, hier endete. Er stand vor einem tiefen, sumpfigen Graben, über dessen modrig warmem Dunst Hummeln, Fliegen und frühe Bienen ein erstes Fest veranstalteten. An den Zweigen der Büsche strahlte zartes Grün im Sonnenlicht. Die Bäume hingegen waren noch stumm.
    Er war also vom Weg abgekommen. Gleichmütig ging er zurück zum verpassten Abzweig, was länger dauerte, als er vermutet hatte. Dort angekommen, interessierte ihn allerdings schon, aus welchem Grund er nach rechts abgebogen war, ohne dies zu wollen. Er stieß auf frische Fahrspuren, die von einem Holztransporter oder einem ähnlich schweren Fahrzeug stammen konnten. Das Gewicht von Gefährt und Ladung hatte sich nicht sonderlich tief, aber doch deutlich sichtbar in den Boden gepresst.
    Er war zwischen den beiden Spuren gegangen und ihnen nach einer Weile, wie selbstverständlich und ohne weiter zu überlegen, gefolgt. Er war also Spuren gefolgt, die so eindeutig und klar ersichtlich vor ihm lagen – und doch den falschen Weg wiesen. Auch darüber musste er jetzt nachdenken, was ihm keine Pein bereitete, denn heute nun, am vierten Tag seiner Wanderung, war Conrad Schielin zur Ruhe gekommen, und neben ihm, an lockerer Leine, trottete, nicht weniger nachdenklich und über die Zeitläufte der Eselwelt nachsinnend, Ronsard. Amtzell hatten sie weit hinter sich gelassen, es war schon schummrig, und bald sollten
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