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Pulverturm

Pulverturm

Titel: Pulverturm
Autoren: Jakob Maria Soedher
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Spielbank, bereute er den Unsinn. Die Taschengriffe schnitten ihm in die Hände, und die Kante des Kartons drückte unangenehm gegen die Außenseite des Oberschenkels. Er verteilte die Schmerzen, indem er oft die Tragehand wechselte. Er kürzte ab, ging direkt zum Stiftsplatz und warf das Kuvert, das er seit gestern bei sich trug, in den Nachtbriefkasten am Amtsgericht ein. Der stählerne Aschenbecher, der gleich daneben angebracht war, verströmte den muffigen Geruch kalten Zigarettenqualms. Er machte, dass er wegkam, und gleich war ihm leichter und wohler zumute. Heute verzichtete er auf die traditionelle Hafenrunde, ging durch die Maximilianstraße, wechselte auf der Thierschbrücke über die Bahngeleise und war sogleich auf der freien Fläche vor der Ufermauer.

    Die Bänke dort waren immer noch ohne Lehne. Er setzte sich zufrieden nieder. Es war ein anderer Ottmar Kinker als jener, der er die Jahre zuvor gewesen war. Er ging anders, lockerer, trug Jeans und Sweatshirt, darüber eine blaue Windjacke und bequeme Schuhe. Die Hornbrille war noch die gleiche, aber jetzt war sie gewollt stylisch.
    Er stellte die Plastiktüte neben der Bank ab. Eine Kaffeemaschine hatte er gekauft, recht günstig. Sie behaupteten, Geiz mache geil. Früher, wenn er sich mal einen Rasierapparat, Glühlampen oder Batterien gekauft hatte – anderes hatte keinen Wert für ihn – war er immer verwundert darüber gewesen, was daran geil sein sollte. Noch mehr jedoch wunderte er sich darüber, dass dieser Werbespruch allem Anschein nach funktionierte. Bis zu dem Augenblick, als er mit Yulia in der Küche zusammenkam. Da war er ziemlich geizig gewesen und sie auch.
    Fälschlicherweise war er der Meinung gewesen, seine Hosen in der Hektik vollständig heruntergebracht zu haben, was sich leider als Irrtum herausstellen sollte. Als er auf Yulia zustürzte, blieb er hängen, schlug zuerst mit der linken Schulter und dem Kopf auf die Tischplatte, versuchte, sich mit der rechten Hand am Stuhl festzuhalten, der kippte und ihm böse gegen die Hüfte schlug. Eigentlich hatte es wehgetan, hinderte ihn jedoch nicht an seinem Vorhaben. Aber eines war ihm seither klar: Nicht der Erwerb der billigsten Kaffeemaschine der Welt war in der Lage, eine derartige Schmerzunempfindlichkeit hervorzubringen.

    Er wartete, bis die Sonne irgendwo hinten bei Konstanz im See versunken war, bevor er gedankenverloren weiterging, der Ufermauer folgte, die kurz vor dem Pulverturm in Stufen anwuchs und sich zu einem Durchlass emporschwang. Ottmar Kinker schritt hindurch und ging langsam die Stufen hinunter zum See. Die Sonne hatte die graue, runde Mauerfläche des Pulverturms erwärmt. Die kalten Wasser des Sees lagen weit zurückgezogen und gaben die Fundamente des alten Wehrbaus frei, die von riesigen Kieseln und Treibholz umgeben waren. Er saß eine Weile auf einem unterspülten Betonsockel, lehnte am rauen runden Turm, spürte die warme Gewalt am Rücken und beobachtete, wie das Dunkel zunehmend den Raum um den See füllte.
    Es war schon verrückt, was er getan hatte. Er, der Unscheinbare. Plötzlich nahmen ihn alle wahr. Böhle besonders. Der hatte jetzt Angst vor ihm. Und zu Hause? Das würde was geben, wenn sie es erfuhren. Er lachte etwas bitter einer verschwundenen Sonne nach. Sein neues Leben hatte begonnen.
    Ein Geräusch riss ihn aus seinen Gedanken. Er wandte sich der Treppe zu. Irgendetwas hatte da geraschelt. Aber er war im Moment völlig alleine hier. Weit und breit hatte er niemanden gesehen.
    Am Rücken war die Wärme noch zu spüren, doch von vorne drang ihm allmählich, mit der Dunkelheit im Bunde, eine scharfe Kälte ins Gesicht. Er erhob sich, ging vorsichtig balancierend über große Kiesel zur Treppe zurück und nahm immer zwei Stufen auf einmal, sah dabei nach unten, um nicht zu stolpern. Auch als er langsam die Treppe nach oben ging, hatte er den Blick auf die Stufen gerichtet, und so schreckte er zusammen, als er die dunkle Gestalt wahrnahm, die ihm völlig unerwartet im torartigen Durchlass entgegentrat. Er drehte sich wieder dem See zu und ging einen Schritt nach links, um dem Fremden und doch auf seltsame Weise Bekannten den Weg hinunter zu ermöglichen. Er sah den Bodensee, die dunklen Umrisse des Pulverturms, schwebende Lichter am Schachener Ufer und einzelne Sterne am mattschwarzen Himmel.
    Es ging sehr schnell. Die Gestalt ging nicht an ihm vorbei. Gerade als er sich wieder umdrehen wollte, spürte er den Blick, dann einen harten Griff am
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