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Privatklinik

Privatklinik

Titel: Privatklinik
Autoren: Heinz G. Konsalik
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bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.« Das war ein guter Spruch, aus ihm ließ sich eine Predigt machen, die alle Lebensbezirke berührte.
    »Ja?« rief er durch die Tür, als das Klopfen der Haushälterin nicht aufhörte. »Was ist denn?«
    Er erfuhr von dem Besuch, der sich nicht abweisen ließ, der weinte und sagte, es ginge um das Leben einer ganzen Familie.
    »Einen Augenblick«, sagte Pfarrer Merckel. Man hörte ihn hin und her räumen, sich räuspern, eine Tür abschließen. Dann öffnete er das Arbeitszimmer und sah in die Diele. Er war ein stattlicher breiter Mann Anfang der Sechzig, mit schlohweißem Haar und einem roten Gesicht, was ihm, zusammen mit der tiefen Stimme, den Anblick eines Patriarchen verlieh. Wenn er auf der Kanzel stand, vor dem Altar oder bei der Fronleichnamsprozession das Allerheiligste durch die Straßen trug, im goldenen Gewand unter einem roten Himmel, war es unmöglich, von der Ausstrahlung seiner Persönlichkeit nicht gepackt zu werden. Man beugte die Knie, man lauschte seinen Worten und empfand, daß hier wirklich ein Recke Gottes um die Seelen kämpfte.
    »Bitte«, sagte Pfarrer Merckel und trat zur Seite. Susanne Kaul betrat die Bibliothek. Das erste, was ihr auffiel, war der ihr bekannte, für sie unverkennbare leichte Geruch von Alkohol, der im Zimmer schwebte. Sie wandte sich verwundert zu Pfarrer Merckel um und sah in gütige, ruhige, glänzende Greisenaugen.
    »Ich bitte um Verzeihung, wenn ich noch so spät …«, begann sie. Pfarrer Merckel schüttelte den Kopf, faßte Susanne am Arm und führte sie zu einem Sessel.
    »Gott ist immer zu sprechen«, sagte er. »Ich bin sein Diener.«
    Susanne setzte sich zaghaft. Sie sah sich verstohlen um. Wände voller Bücher, dunkle, gebeizte, alte Möbel, ein mächtiger Schreibtisch, dahinter an der Wand ein Holzkruzifix, in der Ecke auf einem Podest eine alte Madonna mit Jesuskind, Sessel, zwei Rauchtische, ein zerschlissener, aber echter Orientteppich, vor einem Ewigen Licht ein geschnitzter eichener Gebetsstuhl, wie man ihn in alten Klöstern noch findet.
    »Ich komme wegen Peter. Mein Mann, Herr Pfarrer. Peter Kaul. Elektriker bei den Marsellus-Werken in Essen.«
    »Ja.« Pfarrer Merckel faltete die Hände. Sie trägt noch keine Trauer, dachte er. Ist er tot, und sie hat es gerade erfahren, oder ist er schwer verletzt? Er wartete, was sie sagte, und fragte nicht.
    »Mein Mann ist ein Säufer, Herr Pfarrer«, sagte Susanne leise. Pfarrer Merckel faltete die Hände auseinander.
    »Ein was?«
    »Er trinkt. Er vertrinkt jeden Freitag über die Hälfte des Lohnes, wir haben Schulden über Schulden, die Kinder haben nichts anzuziehen, die Miete müssen wir uns abhungern, manchmal tobt er, manchmal ist er wie ein Kind, er kann Stühle gegen die Wand schlagen und gleich darauf wie ein junger Hund heulen … er … er ist verrückt, Herr Pfarrer. Der Schnaps hat ihn verrückt gemacht.« Sie hob beide Hände, als wolle sie beten. »Bitte, bitte helfen Sie mir … Sie sind meine letzte Rettung. Auf seinen Pfarrer muß er hören. Helfen Sie …«
    Sie weinte wieder. Alle Stärke war mit den gesagten Worten verbraucht. Nun lag sie halb im Sessel, die Hände vor dem Gesicht, zitternd und schluchzend. Pfarrer Merckel ging wortlos hin und her, um den Schreibtisch herum, am Sessel vorbei, an der burgundischen Madonna, am Betgestühl. Dann blieb er vor Susanne Kaul stehen, beugte sich vor, nahm ihre Hände und drückte sie langsam von ihrem Gesicht herunter.
    »Erzählen Sie mir alles«, sagte er mit seiner gütigen, tiefen Patriarchenstimme. »Wenn ich Ihnen helfen kann, will ich es tun.«
    Sie sah ihn aus flatternden Augen an, ihr Mund verzog sich wie zu einem stummen, gepreßten Schrei. Er riecht nach Alkohol, dachte sie und spürte, wie es in ihr eiskalt wurde, als stürbe sie partienweise ab. Nicht Schnaps ist das … es ist Wein, ich kenne das zu genau. Schnaps riecht nach Fusel, Wein riecht irgendwie säuerlich.
    »Ich will alles sagen, Herr Pfarrer«, stammelte sie. »Können Sie ihm helfen?«
    »Gott hat für alle eine Medizin.« Pfarrer Merckel ließ die Hände Susannes los und setzte sich ihr gegenüber. »Erleichtern Sie sich, Frau Kaul, reden Sie sich alles von der Seele … das ist im Augenblick für Sie die beste Medizin.«
    Am Samstagvormittag hatte Peter Kaul alles vergessen. Er saß im Bett, hatte einen trockenen Hals, eine brennende Kehle, das Gefühl unerträglicher Übelkeit im Magen und versuchte alle zehn Minuten, sich
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