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Privatklinik

Privatklinik

Titel: Privatklinik
Autoren: Heinz G. Konsalik
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leicht machenden Nebel in seinen Gehirnwindungen, ein wundervolles Gefühl der Erlösung, das ihn durchrann, das ihn innerlich frei machte, unendlich glücklich und zufrieden. Er träumte dann mit der kindlichen Seligkeit des Entzückens … eine Wiese mit einem Haus darauf, Berge leuchteten silbern in der Sonne, ein Adler schwebte über ihm, er lag im blühenden Gras und küßte ein Mädchen, das so jung und so hübsch aussah, wie es Susanne vor dreizehn Jahren gewesen war. Er fühlte sich stark und voll freiheitlichem Drang, er hätte jauchzen können, die Welt war so herrlich, so sonnig, so glücklich … bis dann die Schleier wiederkamen, alles einhüllten, alles wegnahmen, bis die Sonne erlosch, das Glück, die Freiheit, die Stärke … bis er aufwachte und sich wiederfand in seinem zerwühlten Bett oder auf dem Sofa in der Küche, statt nach Blumen roch es nach Weißkohl, und statt der zwanzigjährigen Susanne stand eine verhärmte, zweiunddreißigjährige Frau am Herd, in einer sauberen Kittelschürze, die Haare zurückgekämmt, mit den wenigen Mitteln der eigenen Geschicklichkeit ›zurechtgemacht‹, krampfhaft bemüht, ihm, den Kindern, den Nachbarn und auch sich selbst nicht den Anblick der Verbitterung zu bieten, und doch fahlhäutig und gezeichnet durch die Runen des Elends, die in die Mundwinkel zwischen Nase und Kinn eingegraben waren. Die Lippen, die er im Traum geküßt hatte und die unter ihm sehnsüchtig aufgeblüht waren, verzogen sich jetzt und sagten: »Na, ausgeschlafen? Kann man jetzt wieder vernünftig mit dir reden? Vierzig Mark hast du an diesem Tag allein versoffen!«
    Dann sehnte er sich nach Alkohol, nach dem Traum, nach dem Vergessen, nach Freiheit und Liebe, Sonne und innerer Wärme. Das alles gab ihm der Schnaps, die wasserhelle, in der Gurgel brennende Flüssigkeit, die seine Magenwände verbrannte und sein Hirn verzauberte. O Seligkeit der Trunkenheit!
    »Soll euer Vater wieder weinen?« sagte er und legte seine Hände schwer auf die Schultern seiner Kinder. »Wollt ihr das? Könnt ihr das mit ansehen? Seid ihr schon so roh, ihr Kinder?« Sein Kopf sackte nach vorn, das Kinn schlug an den Kragen und den Schlipsknoten aus roter Kunstseide. »Nur ein Gläschen … ihr könnt es Mutti ruhig sagen! Alles, alles könnt ihr sagen, ihr Spione!«
    Der Heimweg wurde mühsam und lang. In neun Wirtschaften kehrten sie ein, bis Petra und Heinz endlich die Häuserkolonie sahen. Block an Block, fünfstöckig, uniformiert, kasernenartig, Wohnmaschinen, grauweiß verputzt, Kinderscharen vor den Türen und auf dem Gehsteig spielend, vor einem Konsumgeschäft eine Gruppe von fünf Frauen im Gespräch, vier von ihnen schwanger, die eine zum neuntenmal. Was sollte man dagegen tun? Es war ein Lebensrhythmus, aus dem man nicht mehr herauskam: Arbeit, Essen, ein paar Flaschen Bier, Fernsehen und das Bett. Ein ewiger Kreislauf, der jährlich im Kreißsaal endete und wieder begann.
    Im dritten Haus, Block vier, wohnte die Familie Kaul. Im ersten Stockwerk, zwei Zimmer, Küche. Ein Schlafzimmer für die Eltern, eins für die beiden Mädchen Petra und Gundula, eine Wohnküche, in der nach dem Fernsehprogramm Heinz schlief, auf einer alten Chaise, deren Federn sich durch die Afrikpolster drückten. Bis zum Ende des Fernsehens schlief er mit Petra in einem Bett. Oft weinten sie gemeinsam, bis sie einschliefen … aber das sah und hörte niemand. Nebenan lief die Tagesschau, das war wichtiger. Ab und zu hörten sie den Vater ein Bild kommentieren: »So ein blöder Hund!« sagte er etwa, oder: »Wenn ich Minister wäre, alle in den Hintern treten würd' ich die da!« oder: »Nun sieh dir das an, Susanne! So was haben wir gewählt!« Wenn er so sprach, war er meistens guter Laune, und es gab keinen Krach vor dem endgültigen Schlafen.
    Susanne wartete in der Küche auf die Rückkehr ihrer Familie, Gundula, das jüngste Kind, ein Jahr alt und merkwürdig schlaff in den Beinen und mit verträumten Augen, schlief schon in einem alten Kinderwagen aus Wachstuch. Das Geld für einen neuen Kinderwagen hatte Peter Kaul vor einem halben Jahr auf dem Weg zum Geschäft vertrunken.
    Ihr halbes Leben verbrachte sie damit, eine Fassade vor ihrem Elend aufzubauen. Sie nähte sich und den Kindern die Kleider selbst, sie achtete auf peinliche Sauberkeit, und wenn sie aus dem Haus ging, schritt sie daher wie eine zufriedene, durch ihren Mann gutgestellte Frau, sprach nur mit großem Lob von ihrem Peter und richtete die Kinder ab,
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