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Privatklinik

Privatklinik

Titel: Privatklinik
Autoren: Heinz G. Konsalik
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zu erbrechen. Es blieb aber nur ein keuchendes, qualvolles Würgen, dem ein paar Tropfen Magensäure und Gallensaft folgten.
    Susanne saß in der Küche und rechnete, was sie mit dem Geld anfangen sollte, das in der Lohntüte übriggeblieben war. Die Kinder waren in der Schule, Gundula, das jüngste, lag im Kinderwagen und spielte mit buntlackierten Holzklötzen. Um elf Uhr kamen die ersten Ratenkassierer. Es hatte sich hier in der Arbeiterkolonie so eingebürgert, daß die Abzahlungsraten wöchentlich, wie die Entlohnung war, bezahlt wurden. Da fast alle Familien in den großen grauen Häuserblocks auf Raten kauften, hatten die großen Lieferfirmen eigene Kassierer eingestellt, die jeden Samstagmorgen von Tür zu Tür gingen. Das war sicherer, als auf die Überweisungen per Postscheck zu warten.
    Peter Kaul schlurfte aus dem Schlafzimmer in die Küche und holte sich ein Glas Wasser. Gierig trank er es und schüttelte sich vor der Lauheit des Getränkes. »Laß doch das dämliche Rechnen!« sagte er und zog die Schlafanzughose hoch. »Vom Rechnen wird's auch nicht besser. Gut, es fehlen wieder siebenundvierzig Mark … ich hole sie nächste Woche wieder. Ich mache zwei Nachtschichten mit! Zufrieden, Susi?«
    »Gleich kommt der Kassierer von der Waschmaschine. Zwei Raten sind schon fällig. Wenn ich die dritte nicht bezahle, holen sie die Maschine wieder ab. Zahl' ich sie aber, gibt's diese ganze Woche kein Fleisch! Nur Kartoffeln und Gemüse durcheinander.« Sie legte den Bleistift auf die Lohntüte. »Irgendwo muß ich ja dein Saufgeld herausholen!«
    Peter Kaul schwieg und schlurfte ins Schlafzimmer zurück. Sie hat recht, dachte er, als er sich wieder ins Bett legte. Sie hat ja so recht. Ich werde nachher und morgen, den ganzen Sonntag, schwarzarbeiten. Auf einem Neubau suchen sie einen Elektriker, ganz in der Nähe, ich weiß es. Und ich werde jetzt jeden Samstag und Sonntag schwarzarbeiten. Sie sollen alle sehen, daß ich für meine Familie sorgen kann. Verdammt noch mal – sie hat ja so recht, die Susanne.
    Wehmut überkam ihn wieder. Er hätte weinen können, aber er biß sich auf die Lippen und zwang sich, so gut es ging, Haltung zu bewahren. Sie wissen ja alle nicht, warum ich saufe, dachte er. Sie sehen alle in mir nur das Luder, das seinen Lohn an der Theke läßt und seine Familie ruiniert. Ich kann es ihnen doch nicht sagen, was los ist … ich kann doch nicht hingehen und sagen: Ich bin nicht der Peter Kaul, den ihr kennt! Ich bin nicht der ehrbare Elektriker von den Marsellus-Werken, und ich bin auch nicht das Schwein von Säufer, das sich von seinen armen kleinen Kindern abschleppen lassen muß. Ich bin … nein, ich kann es nicht sagen! Ich kann nur saufen, wenn ich daran denke. Nur saufen! Vergessen will ich! Ruhe will ich! Ruhe! Ruhe! Und auch Susanne darf es nicht wissen. Sie liebt mich, ich weiß es, trotz allem liebt sie mich noch. Das, was sie nicht weiß, wird ihre Liebe töten!
    Jetzt weinte er wirklich, alles Auf-die-Lippe-Beißen nützte nichts mehr. Er lag in den Kissen, starrte an die getünchte, fleckige Decke (dem Obermieter Wagner war vor einem halben Jahr ein Eimer umgekippt), zerwühlte mit seinen Händen die Bettdecke und heulte leise vor sich hin.
    An der Wohnungstür klingelte es. Elf Uhr. Der Kassierer für die Waschmaschine. Peter Kaul ergriff die Steppdecke und zog sie über seinen Kopf. Er verkroch sich vor der Wirklichkeit.
    Um die gleiche Zeit saß Pfarrer Hans Merckel im Ordinationszimmer dem Psychiater und Hirnchirurgen Dr. Konrad Linden gegenüber.
    Mit Dr. Linden hatte Pfarrer Merckel eine Kapazität ersten Ranges aufgesucht. In der Klinik vor den Toren Essens, im Ruhrtal zwischen lichten Wäldern gelegen, operierte er Fälle, die internationale Sensationen darstellten. Komplizierte Hirntumoren waren sein Fachgebiet, aber auch Nervennähte und so gefährliche Operationen wie Leukotomien und Defrontalisationen wurden in der Klinik ausgeführt und hatten den Ruhm Dr. Lindens in Fachkreisen begründet. Von den Gerichten des Ruhrgebietes wurde er oft als Gutachter angefordert. Immer waren seine Gutachten prägnant, klar, sicher und richtig. Mit sechsundvierzig Jahren stand Dr. Konrad Linden auf der Höhe seiner Arztkarriere und wartete nur noch auf die Professur an der geplanten neuen Ruhruniversität.
    »Was Sie da erzählen, Herr Pfarrer, ist ja ein Alltagsgeschehen«, sagte Dr. Linden etwas distinguiert. Er hatte sich über eine Stunde lang das Schicksal der Familie Kaul
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