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Prinz-Albrecht-Straße

Prinz-Albrecht-Straße

Titel: Prinz-Albrecht-Straße
Autoren: Will Berthold
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vernichteten … und die armselige Nummer 3402 sank in sich zusammen, Strandgut des Lebens, an dem sie keinen Anteil mehr hatte …
    Werner Stahmer war taktvoll und behutsam wie nie in seinem Leben. Er mutete Margot nicht zu viel zu. Er gewöhnte sich an, sie anzulächeln, ohne daß sie sich im Spiegel sah. Er überlegte jeden Schritt zwei- und jedes Wort dreimal. Er kehrte jeden Satz um. Er schob ihr Kissen zurecht. Er drehte das Radio ab. Er zwang sie mit sanftem Nachdruck zu essen, irgend etwas, von dem sie hinterher nicht wußte, was es war. Er erzählte von Schweden. Er breitete wie einem Kind die nordische Landschaft als Märchenbuch vor ihr aus. Er kam mit banalen Dingen und versuchte, zu anderen überzugehen, wollte Margot erklären, welche Lektion auch ihm die Zeit erteilt hatte, daß er längst da stand, wohin sie ihn vor Jahren bringen wollte. Er nahm sie an der Hand und führte sie in der Erinnerung wieder an die Riviera zurück. Er malte in Pastelltönen Rotwein und Spaghetti in ihr Bewußtsein. Er war ein blendender Psychologe, aber er rannte gegen Mauern. Vielleicht hätte er es geschafft, wenn ihm Zeit geblieben wäre, oder wenn es nicht zu diesen dummen Zufällen, wie der Begegnung mit Dr. Pfeiffer, gekommen wäre.
    Sie waren jetzt schon zwei Tage in Berlin, und morgen sollte es weitergehen. Die Devisen hatte der Agent bereits. Die Visa fehlten noch, waren aber schon gesichert. Es konnte und durfte nichts mehr schiefgehen. Margot war schwach, ermattet, ihre Augen rot gerändert. Sie konnte nicht schlafen. Stahmer hatte ihr Tabletten gegeben. Sie halfen nicht. Aber sie mußte ausgeruht sein.
    Stahmer ging mit ihr zum Arzt. Zum nächstbesten. Es war der schlechteste, den er wählen konnte. Schon das goldene Parteiabzeichen auf seinem Rockaufschlag machte ihn zuwider. Er klopfte Margot auf die Schulter. »Sie sehen ja schlecht aus … so werden Sie nie eine richtige deutsche Frau und Mutter«, stellte er fest.
    Das Radio spielte halblaut im Hintergrund. Schon wieder war eine Sondermeldung angekündigt, versenkte die Kriegsflotte Brutto-Register-Tonnen.
    »Aber unsere Feinde führen gegen Frauen und Kinder Krieg … jawohl«, salbaderte der Mann weiter, »man braucht ja nur ihnen ins Gesicht zu sehen, um diesem perfiden Albion die Maske vom Gesicht zu reißen …« Er lachte meckernd.
    Werner Stahmer wollte sich und Margot ablenken. Er sah zu dem Bild an der Wand des Behandlungsraums, das einen jungen Fliegeroffizier darstellte.
    »Mein Sohn«, kommentierte der Arzt stolz. Seine Augen glänzten begeistert. »Vor drei Wochen gefallen … was meinen Sie, wie stolz ich auf ihn bin …«
    »Bitte das Rezept«, drängte Stahmer. Er hätte etwas darum gegeben, diesem akademischen Quacksalber ins Gesicht schlagen zu dürfen.
    »Entschuldige …«, sagte er zu Margot. Sie wirkte wieder wie eine Mumie, die noch zu jung war.
    An der nächsten Ecke kaufte er die Schlaftabletten. »Leg dich ein paar Stunden hin«, sagte er, »ich hole jetzt unsere Pässe … und dann …«
    Er brachte Margot in die Wohnung. Dann ging er fort, um noch einiges zu erledigen. Sie mußten morgen nach Schweden weiterreisen, die Zeit drängte. Er war jetzt ganz sicher, daß alles gut gehen würde. Ein paar Stunden noch, dann die Fahrt, dann der Sprung über die Grenze. Kinderspiel für einen gelernten Fachmann!
    Werner Stahmer verabschiedete sich bei Löbel. Er wurde aufgehalten. Er war nicht einmal böse darüber; erstens lenkte es ab, und dann war es vielleicht ganz gut, Margot erst wieder zu sich kommen zu lassen.
    Es war falsch. Aber das konnte Stahmer nicht wissen.
    Margots Anfall kam ganz plötzlich. Sie spürte ein rasendes Karussell im Kopf und brach in der Mitte des Zimmers zusammen. Fledermäuse umringten sie. Sie hatten Geierschwingen mit Hakenkreuzen. Sie warteten. Und sie krächzten höhnisch dabei.
    »Aufhören!« rief das Mädchen schwach, kam wieder hoch, ging auf die Couch zu. Sie sah den Jungen wieder, der auf den alten Mann losging, und schämte sich für ihn. Die Ereignisse der letzten Tage drangen geräuschvoll auf sie ein, es war, wie wenn eine Platte spielte.
    Wie stolz … dröhnte es im Raum, wie stolz, dröhnte es weiter, stumpfsinnig, laut, aufdringlich. Immer an der gleichen Stelle. Die Platte hatte einen Sprung. Der Verstärker ließ sich nicht zurückschrauben. Und sie marschierten und sangen. Und dann kam die England-Fanfare wieder. Und jetzt die Meldung aus Rußland … Und in drei Wochen ist der
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