Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Prinz-Albrecht-Straße

Prinz-Albrecht-Straße

Titel: Prinz-Albrecht-Straße
Autoren: Will Berthold
Vom Netzwerk:
Person … Aber schnell … dalli … Wie lange brauchen Sie?«
    »Höchstens drei Tage«, erwiderte Stahmer.
    »Was brauchen Sie noch?« fragte der Standartenführer sachlich.
    »Eine schriftliche Vollmacht für den Chef der KZ-Lager … einen Familien-Paß für Schweden … Devisen und …«
    »Alles genehmigt«, unterbrach ihn Löbel. »Nur eine Bedingung: Halten Sie den Mund.«
    »Jawohl, Standartenführer«, versetzte Werner Stahmer so zackig wie noch nie. Er wußte, daß er auf dem Weg war, an sein Ziel zu kommen. Ohne jedes Risiko noch dazu, wenn er sich beeilte.

81
    Sie standen im Karree, seit Stunden, und hatten gewartet: auf nichts, auf Schläge, auf die Besichtigung oder eine neue Gemeinheit. Das Leben hatte keinen Sinn, aber die Schikane System. Sie führten keinen Namen, sondern Ziffern. Sie waren keine Einzelwesen, sie zählten im Hundert. Und deshalb wurden sie en bloc gequält und en masse getötet.
    Ein feiner Regen fiel unsichtbar. Es war Mai, aber die geschlechtslosen Wesen auf dem Appellplatz erlebten keinen Frühling; für sie war immer Herbst. Spätherbst. Die Blätter fielen, die toten Blätter. Und darum waren ihre Gesichter grau wie alles in dieser Hölle, grau wie die Klamotten, grau wie das Essen, grau wie die Wände, grau wie der Boden. Selbst das spärliche Grün neben der Küchenbaracke wirkte schon verwelkt, bevor es sich noch entfaltet hatte.
    Eine Zahl wurde aufgerufen. Vierstellige Ziffer. Schon lange her, dachten die weiblichen Häftlinge, soweit sie noch denken konnten.
    Aus der vorderen Linie schälte sich eine schmale menschliche Gestalt. Sie rührte niemanden. Hier waren alle erschreckend schmal, und alle Gefühle waren gestorben, die eigenen wie die fremden, die guten wie die schlechten, die Angst wie die Hoffnung. Der Stumpfsinn hatte die Neugier gefressen, der Alltag die Zukunft, das Ende den Anfang. So sah der Nummer 3402 niemand nach. Man konnte hier im Frauen-KZ wegtreten, aber nicht ausscheren.
    Die Nummer 3402 war noch jung. Aber es war ihr nicht anzusehen. Selbst zu erkennen, daß sie vor Jahren noch hübsch war, erforderte Phantasie. Nummer 3402 war kein Wesen, sondern eine Frau; keine Frau, sondern ein Mädchen; kein Mädchen, sondern ein Häftling … eines Vaters Tochter, die sich nicht mehr gewünscht hatte, als eines Mannes Frau zu werden.
    Sie war eines Teufels Geisel geworden. Auch das hatte Margot Lehndorff vergessen. Nummern fragen nicht. Das Mädchen wurde zum Glied einer Kette. Ketten haben keinen Anfang und kein Ende, wenn sie auch rasseln. Häftlinge wurden mit der Zeit so starr und gefühllos wie Kettenglieder – sofern sie die Zeit überlebten.
    Die Nummer 3402 war den Weg zur Schreibstube unzählige Male gegangen. Am Anfang als Neuling noch zwischen Angst und Hoffnung; Hoffnung auf Hilfe, Angst vor den Schlägen. Margot hatte wie alle anderen gehofft und gehungert, geweint und geflucht. Sie hatte sich aufgebäumt und war zusammengesunken. Sie hatte alle Stadien von der Resignation zur Verzweiflung durchlaufen, bis sie es erlernte, die einzige Abwehrwaffe ihrer Leidensgenossen zu benutzen: den fühllosen Stumpfsinn, mit dem allein der KZ-Insasse täglich sein verblassendes Bewußtsein beschwichtigen konnte.
    Die Nummer 3402 hatte die Schreibstube erreicht und stand vor der Aufseherin stramm wie schon ein paar hundert Male. Ein Zucken des Auges, ein heftiges Atmen, ein Wort zuviel oder ein Lachen zu früh: es konnte Folter bedeuten, Deportation in ein Bordell oder Abtransport zur Vivisektion. Dieses zu kurz gekommene Wesen, eine Art weiblicher Hauptfeldwebel, hatte Gewalt über die letzte Ungeheuerlichkeit, die man einer Frau seelisch oder körperlich zufügen kann, und sie genoß ihre Macht.
    Beides hatte Margot Lehndorff gefürchtet. Beides war an ihr vorübergegangen. Beides befürchtete sie weiter. Bis sie in dem barmherzigen Übermaß des Stumpfsinns steckenblieb. Das Herz schlug noch. Die Glieder funktionierten. Selbst die Gedanken liefen noch, wenn auch schwer und träge. Nur etwas fehlte, hatten sie zerstört, als sie das Rückgrat brachen: die Seele.
    »Hier«, sagte die Aufseherin, eine Art weiblicher Hauptfeldwebel, »unterschreiben Sie.« Sie schob der Nummer 3402 ein bereits ausgefülltes Formular über den Schreibtisch.
    Margot Lehndorff betrachtete es ohne Neugier, als wäre ihr der Inhalt völlig gleichgültig, als interessierte sie nur die Stelle, an die der Name zu setzen war. ›Schweigegelöbnis‹, stand im primitiv
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher