Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Prinz-Albrecht-Straße

Prinz-Albrecht-Straße

Titel: Prinz-Albrecht-Straße
Autoren: Will Berthold
Vom Netzwerk:
Falten geworden, harte Linien, die in Keilschrift für jeden lesbar die Geschichte eines Lagers erzählten.
    Sie waren Kilometer weit gekommen. Keiner von beiden sagte ein Wort. Der Motor dröhnte. Sie erreichten eine Ortschaft. Ein Pferdefuhrwerk versperrte den Weg. Stahmer war ihm dankbar. Er mußte sich auf das Fahren konzentrieren. Er fuhr hinter dem Bauern her und hoffte sinnlos, daß der Rappe bis nach Berlin trabte. Er wagte nicht, nach rechts zu sehen. Jeder Blick mußte für dieses zerstörte Etwas zu einem Spiegel werden, in dem es sich selbst sah. Und Stahmer nahm sich vor, bei Margot zu bleiben, was auch geschehe, sie zu lieben, so häßlich sie auch sei, sie niemals im Leben zu betrügen, was auch kommen möge. Er hatte es ihr früher gesagt und auch geglaubt, weil damals der Himmel offenstand; ein Himmel auf Erden, den es nicht gibt. Jetzt betete er es vor sich hin und wußte, daß er es halten würde.
    Werner Stahmer hatte das Pferdefuhrwerk überholt und wieder die freie Straße vor sich. Der Motor brummte laut und taktlos, und Stahmer erschrak über die Taktlosigkeit seiner eigenen Gedanken. Wenn Margot ihn ertappte, zerbrach sie endgültig, und zum zweitenmal durch seine Schuld.
    Er hielt. Er langte in das Handschuhfach und holte eine Schachtel Zigaretten hervor. Er hielt Margot das Päckchen hin. Sie schüttelte den Kopf. Stahmer nahm einen letzten Aufschub, drei Züge lang. »Ich habe alles versucht …«, sprang er ins kalte Wasser.
    Margot reagierte nicht.
    Er legte behutsam seine Hand auf ihren Arm, der sich anfühlte wie ein Stück Holz. »Ich kann jetzt nicht viel erklären … wir fahren nach Berlin …« Er sprach hastig, drängend. »Dort bekommst du Kleider … ich habe Pässe … für Schweden … wir sind in zwei Tagen über der Grenze … und wir kommen nie wieder zurück nach Deutschland … nie mehr, hörst du?«
    Margot sah zum Fenster hinaus. Ihre Gesichtshaut wirkte wie Leder.
    »Mindestens nicht vor Kriegsende …«, schränkte Werner Stahmer ein, als ob seine Worte schuld an ihrem Verhalten gehabt hätten. »Nur mit deinen Haaren ist es schlimm«, setzte er dann hinzu, »man darf nicht sehen, daß du aus … dem Lager …« Er brach ab. Es war zu spät. »Wir werden schon einen geeigneten Friseur für dich finden«, fuhr er in falschem Ton fort.
    Der Schock, dachte er, mein Gott, wenn es bloß nicht auf jede Stunde ankäme! Was kann man tun? Ihr Vater vielleicht? Unsinn, ich hab' schon einmal einen Mitwisser ins KZ gebracht, dachte er bitter. Ira, die Freundin. Sie war dienstverpflichtet als Luftwaffenhelferin in Frankreich. Einen Arzt? Für Haftpsychose gibt es keine Schnelltherapie. Und wenn ich sie über die Grenze prügeln muß, nahm sich Stahmer vor …
    Der Regen hörte auf. Die Sonne brach durch. Der Tag wurde hell und licht. Die Menschen sprachen lauter und gingen beschwingter. Das Lebensgefühl blähte sich wie die Hakenkreuzfahnen, die aus irgendeinem Anlaß wieder aus den Fenstern hingen. Sie flatterten wie Geierschwingen. Warum reißen sie die Fahnen nicht ab? dachte die Nummer 3402. Warum lachen die Menschen noch? Wissen sie denn nicht, was los ist?
    Auf einmal fror Margot. Sie stehen alle auf der anderen Seite, dachte ihr wundes Gehirn, sie gehören zu den Frauen mit den Stiefeln und den Peitschen, wenn sie auch anders aussehen. Aber die Megären sind viel ehrlicher, weil sie ihr wahres Wesen erkennen lassen.
    Die Lautsprecher dröhnten wieder einmal. Sondermeldungen erfüllten die Stadt. Die Menschen blieben stehen und winkten begeistert. Es waren nur 15 oder 20. Aber für die Nummer 3402 schien es die ganze Welt zu sein.
    Da kam die Kolonne von links. Der Fähnleinführer, ein Kind noch fast, ein hübscher, blonder Bengel, ein Kind, wie es Margot einmal hatte haben wollen, bevor sie lernte, auf alles zu verzichten. Rasch ist er groß geworden, dachte sie. Ein dünnes Lächeln huschte über ihr Gesicht, wie der erste Lichtstrahl an einem verregneten Tag.
    Und dann sah sie, wie der Fähnleinführer auf einen alten Mann zuging, der die Fahnen nicht grüßte, und ihn anschrie, bis der Greis rot wurde und ihm der Spazierstock entfiel, wie er sich danach bückte und dann gedemütigt weiterging.
    Werner Stahmer fuhr weiter. Er fluchte. Es wurde immer schlimmer, immer mehr Kolonnen kamen, immer mehr Fahnen, immer mehr Sondermeldungen. Eine Welt in Uniform, mit lachendem Gesicht, mit Siegeswillen, mit Verachtung für die anderen, die Außenseiter, die sie
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher