Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Prinz-Albrecht-Straße

Prinz-Albrecht-Straße

Titel: Prinz-Albrecht-Straße
Autoren: Will Berthold
Vom Netzwerk:
anheben.
    Das alles erlebte Stahmer, ohne es bewußt wahrzunehmen. In dem Sarg lag ein Mädchen, das er geliebt und in einen Sog gezogen hatte, der keine Flucht zuließ. In dem Sarg lag der tote Formis, dessen Ende er verschuldet hatte. Es war nicht nur ein Sarg, sondern es waren viele, und in ihnen lagen die toten ›Konserven‹, die der Frevel für den Abruf konserviert hatte. In dem Sarg lag der kleine Graveur Puch, der nicht nur physisch kurzsichtig war. In dem Sarg lagen sie alle, die an der Prinz-Albrecht-Straße zugrunde gegangen waren. Und in diesem Sarg waren auch Werner Stahmers Wahn und Schuld, seine Hoffnungen und sein Untergang eingebettet.
    Er stand lange am Grab, als hätte er nicht bemerkt, daß die düstere Zeremonie längst vorbei war. Er hielt kein Zwiegespräch mit einer Toten, er rechnete mit sich selbst ab. Und er schenkte sich nichts.
    Als er schließlich weiterging, waren seine Augen wie blind. Am Ausgang warteten zwei Männer, deren Gesichter er kannte.
    »Sie sind verhaftet, Stahmer«, sagte einer von ihnen.
    Der Agent nickte fast befriedigt. Er erfuhr noch am gleichen Tag, daß er nach Prag überstellt werden sollte, und wußte, ohne es zu befürchten und ohne es zu bedauern, daß die Rekonvaleszenz Heydrichs zugleich die Beschleunigung seines Endes war.

84
    Die rasche Genesung des schwer angeschlagenen SS-Obergruppenführers von einer mehr als komplizierten Operation war fast ein medizinisches Wunder. Heydrichs Vitalität war robust, und sein Haß schien den Schulweisheiten der Medizin genauso zu trotzen wie den Menschen.
    Nach zwei Tagen stellte Reinhard Heydrich schon wieder Fragen. Nach drei Tagen las er Zeitungen, sortierte Glückwunschtelegramme und beschäftigte sich mit RSHA-Akten. Fraglos war er über den Berg, als ihm Professor Hohlbaum, eine medizinische Kapazität, das Tetanus-Serum gab. Erfahrungen mit Milzexstirpationen waren 1942 noch gering. Heute ist es eine chirurgische Binsenweisheit, daß bei Menschen ohne Milz die Anwendung von Tetanus- und Gasödem-Seren tödlich wirken muß. So kam es zu dem Treppenwitz, daß Heydrich dem Attentat entkam und eine fast hoffnungslose Operation überstand, um dann an einem medizinischem Versehen zu sterben.
    Am 4. Juni, sieben Tage nach der Operation, waren die Temperaturen eingetragen worden, das Herz abgehört, hatte sich der Zustand weiter gebessert. Die Ärzte waren vollauf zufrieden mit dem Patienten, der SS-Obergruppenführer selbst befand sich bei guter Laune und bestem Appetit. Er hatte die Tagesmeldungen durchgelesen und erfahren, daß Stahmer, sein abgefallener Vorzugsschüler, inzwischen nach Prag überstellt worden war.
    Er ordnete seine Vorführung an. Kurz bevor Stahmer eintraf, stellte die Krankenschwester das Essen ans Bett, zu dem auf Heydrichs ausdrücklichen Wunsch eine Flasche Rotwein gehörte.
    Zwei Kettenhunde führten Werner Stahmer vor. Heydrich nickte, bedeutete ihnen mit einer Handbewegung, sich zurückzuziehen.
    »Wie Sie sehen, Stahmer«, begann er, »lebe ich noch.«
    Der Mann vor ihm reagierte nicht.
    Der Obergruppenführer übersah es und lächelte fahl vor sich hin. Sein Gesicht war blaß, seine Lippen blutleer, aber in seinen Augen lag wieder der kalte, verächtliche Glanz.
    »Und Sie haben dieses Mädchen aus dem Lager geholt«, er nickte, schenkte sich den Rotwein ein, hob das Glas hoch, betrachtete den Wein, als beschäftigte er sich nur damit, ob er die richtige Farbe hätte. »Sie sind übrigens schuld am Tode des Mädchens … das wissen Sie doch …?« sagte er bewußt beiläufig.
    Stahmer schwieg noch immer. Er spürte eine seltsame Erleichterung. Zum ersten Male trat er diesem Mann entgegen, ohne sich zu fürchten. Er fühlte sich losgelöst, frei. Er stand nicht mehr stramm, und er brüllte nicht mehr: »Jawohl.« Er sah Heydrich, wie er war. Er sah einen kalten, im Moment ramponierten Teufel, dem ins Gesicht zu schlagen er die Kraft hätte, so er wollte.
    »Sie sind fertig, Stahmer«, sagte Heydrich, »ganz und gar. Sie kommen in ein Lager. Und man wird Sie ganz langsam auslöschen. Haben Sie genug Phantasie, Stahmer?«
    »Ja«, versetzte der Agent.
    »Schade. Aber vielleicht fallen uns ein paar Überraschungen für Sie ein.« Seine Stimme wurde scharf. »Bei mir steigt keiner aus … bei mir springt niemand ab. Sie benutze ich für die anderen, verstehen Sie? Als reines Demonstrationsobjekt.« Er nickte genüßlich, führte das Glas zum Mund. »Prost, Stahmer«, sagte er. Dann trank er
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher