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Prinz-Albrecht-Straße

Prinz-Albrecht-Straße

Titel: Prinz-Albrecht-Straße
Autoren: Will Berthold
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schwulstigen Stil der Zeit über der Erklärung. Margot hatte sich, ohne es zu wissen, verpflichtet, über alle Vorgänge im Frauenlager zu schweigen. Es war eine Formalität, die der Entlassung vorausging. Da es so selten Entlassungen gab, erfuhr man auch wenig darüber.
    Die Nummer 3402 blieb wie unschlüssig stehen. Die Aufseherin betrachtete sie mit ihren verwaschenen Augen, eingehend und aufdringlich. Sie sagte nichts. Aber in ihrem Gesicht schien sich ein ganzer Schwarm von Gedanken abzuzeichnen, als jetzt ein Geschöpf ihrer Macht entglitt. Vielleicht wollte sie einen Teil der Gemeinheit gutmachen, oder sie bereute, Nummer 3402 nicht doch zu dem SS-Arzt geschickt zu haben, von dem man höchstens als Krüppel zurückkehrte.
    »Da«, sagte die Aufseherin und deutete auf den Nebenraum.
    Margot ging ruckartig weiter. Sie spürte nicht den Schwindel im Kopf und nicht den Hunger im Magen. Sie sah nicht nach hinten und blickte nicht nach vorn. Sie stellte mechanisch fest, daß vier Menschen im Raum waren, aber sie vermochte sie nicht zu unterscheiden.
    Einer davon erschrak so, daß es Margot auffiel. Sie hob den Kopf. Ihr schmächtiger Körper drückte mit einem Schlag wie ein Mühlstein auf die Kniekehlen. Margot lehnte sich an die Wand und schloß die Augen. Sie atmete schwer und wollte schreien. Sie stemmte sich gegen etwas, von dem sie angenommen hatte, daß es längst nicht mehr da war.
    »Ich bedanke mich im Namen des Reichssicherheitshauptamts für Ihre Hilfe«, sagte eine Stimme, die sie kannte und die sie nicht mehr hören wollte. »Ich werde nicht versäumen, in meinem Bericht zu erwähnen, wie zielstrebig Sie uns unterstützt haben.«
    Nein, wollte die Nummer 3402 schreien, das gibt es nicht. Das will ich nicht haben! Sie kam sich nackt vor, erbärmlich. Jetzt, da der Mann aufgetreten war, den sie am Anfang der Haft erwartet hatte, nicht nur, um wieder frei zu sein, sondern auch, weil sie sich nach ihm sehnte, erschien es ihr als die größte Demütigung, die ihr das Lager angetan hatte.
    Margot wollte davonlaufen. Aber sie konnte es nicht. Sie spürte einen festen Griff am Arm und wurde mit einem harten Ruck weitergeschoben. Sie folgte wie eine Puppe. Jemand warf ihr einen Mantel über. Einer schlug die Hacken zusammen. Vor dem Tor stand ein Auto. Stahmer riß den Schlag auf, schob Margot hinein, drehte sich winkend um, fuhr los.
    Und nun spürte sie brennend und würgend Angst, furchtbare, bodenlose Angst … Platzangst, Furcht vor der Stimme. Verfolgungswahn. Sie wollte sich ducken. Aber tiefer konnte sie nicht in die Polster des Wagens kriechen. Sie schloß die Augen, es war, als ob ein Scheinwerfer sie blendete. Sie benahm sich wie ein Mensch, der nach langer Dunkelheit mit grellem Blitzlicht konfrontiert wird. Margot hatte Angst vor seinen Augen, hatte Angst vor seiner Stimme. Und sie ahnte nicht, daß es Werner Stahmer genauso ging.
    Er hatte es leichter gehabt, zunächst konnte er seine Rolle als Beauftragter des Reichssicherheitshauptamts spielen. Er war auf die Begegnung mit Margot vorbereitet gewesen. Und er hatte sich hundertmal gesagt, daß die Gefahr erst in dem Moment drohte, da sie ihn erkennen würde und damit verriete, daß sie nicht ein zufällig ausgesuchtes Werkzeug war. Stahmer hatte sich auf diesen Punkt konzentriert und war bis zu diesem Moment über alle Schwierigkeiten einigermaßen hinweggekommen. Er wußte ungefähr, was in einem weiblichen KZ-Lager vor sich ging. Er hatte sich in quälenden Nächten ausgemalt, wie es einen Menschen verändern mußte. So war er auf das Schlimmste gefaßt gewesen. Aber nicht darauf.
    So saß er jetzt da und suchte eine Brücke, aber er trieb hilflos im Strom. Preisfrage: was sagt man in einem solchen Moment? War's schlimm, Liebling? Oder: entschuldige bitte, ich habe mich verspätet, aber es soll nie wieder vorkommen. Oder: nun wird alles wieder gut, Hauptsache, wir sind zusammen. Oder: hast du einen speziellen Wunsch für das Abendbrot? Oder: wie viele haben sie eigentlich aufgehängt von euch?
    Er schwieg. Er hatte erreicht, was er wollte. Aber er war zu spät gekommen. Vielleicht wäre es besser gewesen, sie hätten Margot gleich getötet. Er schämte sich für diesen Gedanken, aber er fühlte, daß er richtig war, und dann begriff er, daß er sich wegen dieser Einsicht schämte.
    Margot war alt geworden, fast häßlich, sie schien ohne Leben. Die Grübchen über ihren Mundwinkeln, die früher wie Irrlichter getanzt hatten, waren zu tiefen
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