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Populaermusik Aus Vittula

Titel: Populaermusik Aus Vittula
Autoren: Mikael Niemi
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bis sich ein Onkel erbarmte und ein puukko holte. Mit raschem Schnitt öffnete der Alte daraufhin das Glanzpapier wie den Bauch eines Hechts und zog ein Glasrelief eines Elchbocks heraus, eine geschnitzte Küchenuhr mit Batteriebetrieb, einen Tortenheber in Tornedalsilber, einen Schmuckbecher aus Zinn, gehäkelte Spitzendecken, einen Wandbehang mit Kette zum Aufhängen, ein Luxusetui mit Rasierzeug, ein Gästebuch, eingebunden in naturgegerbtes Rentierleder, einen Bettvorhang aus exotischen Muscheln, ein eingebranntes Türschild mit dem Text »Willkommen« und anderen unnützen Kram. Großvater erklärte auf Schwedisch, dass das doch die reine Verschwendung sei, wirklich eine Verschwendung, was eine gute Beschreibung war für teure Merkwürdigkeiten, die man nicht brauchte. Niemand hatte sich getraut, ihm wirklich nützliche Sachen wie eine
    Holzaxt oder einen neuen Auspuff für sein Auto zu schenken, da das ja so aufgefasst werden könnte, als würde man seine täglichen Werkzeuge für nicht gut erachten.
    Früh am Abend kam der Heimatverein zu Besuch, so um die zwanzig Männer und Frauen, die brav die Hände zur Begrüßung schüttelten wie Reichsschweden. Viele hatten Blumen mit sorgfältig beschriebenen Karten dabei. Nach Schnittchen und Torte zogen sie ihre Liederhefte heraus und sangen mit zitternden, leicht schrillen Stimmen. Schwedische Volksweisen aus der Schulzeit, bekanntes Liedgut, Loblieder auf die Wiesen und Felder des Heimatlandes. Vater servierte Cognac, ließ dabei aber diskret die Laestadianer aus. Zum Schluss stimmte man in das Tornedallied ein, langsam und mit zittriger Stimme:
    Sei gegrüßt du schönes Tornedal unsre Heimat so hoch im Norden Du bist für uns die beste Wahl auf diesem weiten Erdenrund ...
    Viele der Alten wurden ganz gerührt und mussten sich die Tränen abwischen. Großvater war überraschenderweise auch ergriffen, bekam ganz rote Augen, und sein Glas fing an zu zittern, sodass Mutter es ihm abnehmen musste. Es fehlte nicht viel, und die ganze Rauchstube hätte angefangen zu heulen. Und das erst recht, als man zum Schluss die finnischen Verse sang, das ging so ans Herz, dass einem ganz heiß und flau wurde.
    Man blieb eine Weile voller Wehmut sitzen. Ließ sich ganz von dem finnischen Leiden erfüllen und dachte schweigend an die vielen Katastrophen, die die Familie ereilt hatte; all die unbarmherzigen Schläge, die ausgeteilt worden waren, alle Kinder, die zurückgeblieben geboren worden waren, alle Jugendlichen, die geisteskrank geworden waren, den vielen
    Hunger, die Armut, alle notgeschlachteten Pferde, die Tuberkulose und Kinderlähmung, die vielen Jahre mit Missernte, alle missglückten Schmuggelversuche, alle Prügel und den Hohn der Behörden und der Obrigkeit, alle Selbstmörder, alle Verräter und Streikbrecher, die vielen Male, die man um Geld betrogen worden war, alle mürrischen Lehrer und verschlagenen Hausherren, alle Führer Schwarzer Listen, alle Arbeiter, die nach Russland gezogen waren, um Stalin zu helfen und zum Dank erschossen worden waren, alle verdammten Vorarbeiter der Holzfäller, alle Sadisten in den Arbeitsstuben, alle, die sich totgesoffen hatten, alle, die beim Flößen ertrunken oder in der Grube gestorben waren, alle Tränen, alle Schmerzen, Erniedrigungen, die unsere geplagte Familie im Laufe der harten Lebensjahre getroffen hatte.
    Draußen war die lange, stahlblaue Winterdämmerung in Dunkelheit übergegangen. Der Polarstern hing wie ein Eiszapfen am Winterdach. Er war umgeben von Tausenden funkelnder Lichterpunkte, während die Temperatur um weitere Grade sank. Der Wald stand kalt und starr, nicht ein Zweig rührte sich. Eine unheimliche Stille herrschte über der Taiga, dieser weit gestreckten Waldmasse, die sich über das spärlich bewohnte Finnland ausdehnt, weiter über Russlands gewaltige Landmasse führt, über das noch gewaltigere Sibirien und an den Stränden des Pazifiks endet, eine unbewegliche Baumwüste, niedergepresst von Schnee und Minusgraden. Tief in den Astgabeln der großen Fichten drückten sich die Meisen wie kleine Wollknäuel zusammen. Und dort, aber nur ganz tief im Inneren, war ein warmes kleines Picken zu spüren.
    Plötzlich verbreitete sich ein Gemurmel in der Küche. Der Jagdverein! Der Jagdverein war in Sicht! Der Wortführer des Heimatvereins erhob sich und hielt eine höfliche, aber kurze Dankesrede, und Großvater versprach ihnen einen alten, verbotenen Fischspeer zu schenken, da er jetzt sowieso nicht mehr so
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