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Populaermusik Aus Vittula

Titel: Populaermusik Aus Vittula
Autoren: Mikael Niemi
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Meeresspiegel. Vor mir konnte ich den Pfad erkennen, der steil die steinige Bergwand hinauflief, bis er in der Dunkelheit verschwand. Langsam, ganz langsam begann ich zu klettern.
    Der Thorong La-Pass, im Annapurnamassiv in Nepal. Höhe: 5415 Meter. Ich habe es geschafft. Endlich bin ich oben! Die Erleichterung ist so groß, dass ich mich auf den Rücken fallen lasse und nur noch keuche. Die Beine brennen vor Muskelkater, der Kopf pocht und schmerzt im ersten Stadium der Höhenkrankheit. Das Tageslicht ist beunruhigend gescheckt. Ein plötzlicher Windstoß kündigt schlechteres Wetter an. Die Kälte beißt in die Wangen, und ich sehe, wie eine Hand voll Bergstei-ger eilig ihre Rucksäcke schultert und den Abstieg nach Mukti-nath beginnt.
    Ich bleibe allein zurück. Kann es nicht über mich bringen, einfach so zu gehen, noch nicht. Immer noch außer Atem setze ich mich auf. Stütze mich an der Gipfelmarkierung mit ihren flatternden tibetanischen Gebetswimpeln ab. Der Pass besteht nur aus Felsen, ein steriler Kiesgrat ohne jede Vegetation. Auf beiden Seiten steigen die Gipfel empor, schwarze, raue Fassaden mit himmelweißen Gletschern.
    Die ersten Schneeflocken peitschen in Windböen gegen die Jacke. Weniger schön. Wenn der Weg wieder einschneit, wird es gefährlich. Ich spähe nach hinten, aber es sind keine weiteren Wanderer mehr zu sehen. Ich sollte schauen, dass ich nach unten komme.
    Aber jetzt noch nicht. Ich stehe auf dem höchsten Punkt, auf dem ich mich jemals befunden habe. Zunächst einmal muss ich Abschied nehmen. Zunächst einmal muss ich jemandem danken. Ein Impuls überkommt mich, ich lasse mich bei dem Gipfelstein auf die Knie fallen. Fühle mich zwar etwas lächerlich, aber ein weiterer Rundblick bestätigt, dass ich allein bin. Schnell beuge ich mich vor wie ein Moslem, den Hintern in der Luft, falle nach vorn und murmle ein Dankgebet. Und da gibt es eine Metallplatte mit eingravierten tibetanischen Buchstaben, eine Schrift, die ich nicht lesen kann, die aber Ernst und Frömmigkeit ausstrahlt, und ich beuge mich noch weiter hinunter und küsse den Text.
    Das ist der Augenblick, in dem die Erinnerung sich mir öffnet. Ein Schwindel erregender Schacht hinab in meine Kindheit. Ein Rohr durch die Zeit, durch das jemand eine Warnung ruft, doch es ist zu spät.
    Ich sitze fest.
    Meine feuchten Lippen sind an einer tibetanischen Gebetsplatte festgefroren. Und als ich versuche, mich mit der Zunge zu befreien, friert auch sie an.
    Jedes Kind in Norrland hat das wohl schon einmal erlebt. Ein eisiger Wintertag, ein Brückengeländer, ein Laternenpfahl, ein überfrorenes Stück Eisen. Meine Erinnerung ist plötzlich glasklar. Ich bin fünf Jahre alt und lecke mich am Türschloss am Eingang in Pajala fest. Zunächst grenzenlose Verblüffung. Ein Türschloss, das problemlos mit Handschuhen oder einem nackten Finger berührt werden kann. Jetzt zu einer teuflischen Falle geworden. Ich versuche zu schreien, aber das ist nicht so einfach, wenn die Zunge festgefroren ist. Ich rudere mit den Armen, versuche mich mit Gewalt zu befreien, muss aber wegen der Schmerzen aufgeben. Die Kälte führt dazu, dass die Zunge taub wird, ein Geschmack nach Blut füllt den Mund. Verzweifelt trete ich gegen die Tür und stoße desperat aus:
    »Ääähhh, ääähhh .«
    Da kommt Mutter. Sie kippt eine Schale warmes Wasser über meinen Mund, das Wasser läuft übers Schloss, meine Lippen kommen frei. Hautfetzen bleiben auf dem Metall zurück, und ich schwöre, dass mir so was nie wieder passiert.
    »Ääähhh, ääähhh«, murmle ich, während der Schnee jetzt dichter fällt. Niemand hört mich. Sollten noch ein paar Wanderer auf dem Weg nach oben sein, kehren sie jetzt mit Sicherheit um. Mein Hintern ragt in die Höh, der Wind bläst kräftig und kühlt ihn. Mein Mund verliert langsam das Gefühl. Ich ziehe mir die Handschuhe aus und versuche mich mit der Wärme der Hände loszueisen, stoße keuchend warmen Atem heraus. Aber es ist zwecklos. Das Metall saugt die Wärme auf, bleibt selbst aber gleich bleibend kalt. Ich versuche aufzustehen, die Metallplatte loszuruckeln. Aber sie ist festgegossen, bewegt sich keinen Millimeter. Der kalte Schweiß macht mir den Rücken nass. Der Wind zwängt sich unter das Jackenbündchen und lässt mich erschauern. Tief liegende Wolken ziehen herauf und hüllen den Pass in Nebel ein. Gefährlich. Verdammt gefährlich. Die Panik wird immer größer. Ich werde hier sterben. Festgefroren an eine
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