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Populaermusik Aus Vittula

Titel: Populaermusik Aus Vittula
Autoren: Mikael Niemi
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den Beinen gymnastische Bewegungen. Streckte sie vor, nach oben, dehnte sie seitwärts in komplizierten orientalischen Mustern. Das machte er immer, wenn er besoffen war, und alle ließen ihn gewähren.
    Ich spürte in meinem Inneren, wie der Rausch seinen Höhepunkt schon überschritten hatte. Er brauste irgendwo weiter hinten im Körper, während ich ruhig dasaß und das Beingezappel des Mannes beobachtete. Das Fest war zu Ende, obwohl es erst elf Uhr abends war. In weniger als vier Stunden hatten die Jäger mehr als einen Liter pro Schädel geschluckt und wieder ausgekotzt, ein Zeichen für langes, verbissenes Training.
    Draußen war ein Auto zu hören, das näher kam, das Scheinwerferlicht tanzte über die Tapeten. Kurz darauf waren Schritte im Eingang zu hören. Greger stürmte herein und entdeckte mich.
    »Spring rein, dann fahren wir!«
    Dann hielt er inne. Drehte sich langsam um und betrachtete sprachlos das beeindruckende Schlachtfeld.
    Ich schüttelte meine Kumpel, bis wieder Leben in sie kam, wir schleppten unsere Ausrüstung zum Wagen und brausten davon. Greger pfiff fröhlich und trommelte auf das Lenkrad, während wir ihn anflehten, das sein zu lassen.
    »Es kommt in Gang«, grinste er. »Ich habe den ganzen Abend rumtelefoniert. Jetzt müsst ihr üben.«
    »Was?«
    »Dass ihr mehr Stücke habt.«
    »Stücke?«, echoten wir dumm.
    Greger lachte nur.
    »Ich habe eure erste Tournee organisiert. Ein paar Schulen, ein Freizeitheim und ein Amateurfestival in Lulea.«
    Wir hielten an der Schule. Greger schloss den leeren Musiksaal auf, und wir schleppten die Verstärker rein. Alle waren immer noch durcheinander und aufgedreht von der Nachricht, deshalb blieben wir da, um zu spielen, auch als Greger nach Hause fuhr. Es klang schrecklich, aber es kam von Herzen, es war rau und ungehobelt, genau wie wir selbst. Niila schlug seine selbst gemachten Riffs, und ich sang meine Improvisationen und fühlte mich schon langsam wie ein Rockstar. Holgeris Gitarre war durch die Kälte vollkommen verstimmt und seine Finger unbeholfen, aber gerade deshalb brachte er ein sagenhaftes Solo zustande, quietschende und schreiende Töne, jaulende, wiegende Klänge. Und schließlich spielten wir unseren alten Hit; Rock ’n’ roll music - mindestens zehnmal. Erst als Erkki beide Trommelschläger zerschlagen hatte, gaben wir auf.
    Es war kurz nach drei Uhr in der Nacht. Die Kirchenstadt Pajala lag öde in der Winterdunkelheit. Wir knarrten heimwärts im Puderschnee unter leise surrenden Straßenlaternen. Die Kälte drang in unsere Lungen, die Ohren weiteten sich durch die Stille der Dämmerstunde. In den Fausthandschuhen taten die Fingerspitzen noch von den schneidenden Saiten weh.
    »Man müsste irgendwohin abhauen«, meinte Niila, »einfach nur wegfahren.«
    »Stockholm!«, meinte Erkki.
    »Amerika!«, rief Holgeri aus.
    »China«, sagte ich. »Irgendwann möchte ich mal China sehen.«
    Es war so still. Als wären alle in der Stadt erfroren. Wir gingen mitten auf der Straße, alle vier nebeneinander. Es gab keinen Verkehr. Der ganze Ort, ja die ganze Welt lag unbeweglich da. Nur wir lebten, vier pochende Herzen in der innersten Astgabel der Wintertaiga.
    Wir blieben auf Pajalas größter Kreuzung stehen, der zwischen dem Farbenhandel und dem Kiosk. Ein Zögern überfiel uns, als ahnten wir, dass wir angekommen waren. Dass an dieser Stelle etwas anderes beginnen sollte. Wir drehten uns um und spähten unsicher in alle Richtungen. Der Weg nach Westen führte nach Kiruna. Im Süden kam man nach Stockholm. Im Osten führte die Straße nach Övertornea und Finnland. Und der vierte Wegstumpf zeigte hinunter auf Torneälvens Eis.
    Nach einer Weile traten wir alle mitten auf die Kreuzung und setzten uns dort auf den Hintern. Wie gemäß einem wortlosen
    Abkommen legten wir uns mitten auf die Kreuzung, quer über die Fahrbahn. Wir streckten uns auf dem Rücken aus und schauten in den Sternenhimmel hinauf. Es war kein Verkehr zu hören, alles war so still. Seite an Seite lagen wir da und atmeten in den Weltraum hinauf. Spürten die Eisbuckel unter dem Arsch und den Schulterblättern, und zum Schluss schlossen wir in aller Ruhe unsere Augen.
    Und hier endet die Erzählung. Kindheit, Jungsjahre, das erste Leben, das wir lebten. Ich verlasse sie hier. Vier Jünglinge auf dem Rücken auf einer Kreuzung liegend, die Gesichter den Sternen zugewandt. Ich bleibe still bei ihnen stehen und betrachte sie. Der Atem geht tief, die Muskeln sind
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