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Plötzlich klopft es an der Tür: Stories (German Edition)

Plötzlich klopft es an der Tür: Stories (German Edition)

Titel: Plötzlich klopft es an der Tür: Stories (German Edition)
Autoren: Etgar Keret
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seine Taschen, suchte nach Münzen und fand keine.
    »Ich kann nicht, Mama«, sagte er unter Tränen, »ich habe keine Münzen. Ich habe in allen Taschen gesucht.« Für jemand, der im Wachzustand nie weinte, war es seltsam, im Traum zu weinen.
    »Hast du auch unter dem Stein gesucht?«, fragte seine Mutter und legte ihre Hand über die seine. »Vielleicht sind sie noch da?«
    Und da wachte er auf. Es war Schabbat, fünf Uhr morgens, noch dunkel draußen. Rubi ertappte sich dabei, wie er ins Auto stieg und zu dem Ort fuhr, wo er als Kind aufgewachsen war. Am Schabbatmorgen, ohne Verkehr auf den Straßen, brauchte er weniger als zwanzig Minuten dorthin. Im Erdgeschoss des Gebäudes, wo einmal der Krämerladen von Pliskin gewesen war, hatte ein »Alles für 1 Dollar« aufgemacht, und daneben, anstelle des Schuhgeschäfts, befand sich jetzt die Filiale einer Mobiltelefongesellschaft, die im Schaufenster ein Display an aufgerüsteten Geräten anbot, als gebe es kein Morgen. Doch das Gebäude war gleich geblieben. Über zwanzig Jahre waren vergangen, seit sie weggezogen waren, aber man hatte es nicht einmal angestrichen. Auch der Hof war noch der gleiche, mit ein paar Blumen, einem Wasserhahn, einer verrosteten Wasseruhr und einer Menge Unkraut. Und in der einen Ecke des Hofes, neben der Wäschespinne, die sie jedes Jahr zum Fest zur Laubhütte umfunktioniert hatten, ruhte der weiße Stein.
    Da stand er, im Hinterhof des Hauses, in dem er aufgewachsen war, mit Anorak und einer großen Plastiklampe in der Hand, und fühlte sich komisch. Halb sechs in der Früh, Schabbat. Wenn nun, sagen wir mal, irgendein Nachbar herauskäme, was würde er zu ihm sagen? Meine tote Mutter ist mir im Traum erschienen und hat mich gebeten, ihr einen runden Kaugummi zu kaufen, also bin ich hergekommen, um nach Münzen zu suchen? Es war seltsam, dass der Stein nach so vielen Jahren immer noch da war. Obwohl, wenn man es recht bedenkt, es ist ja nicht so, dass Steine von selber irgendwohin gehen. Er hob den Stein hoch, halb furchtsam, als könnte es sein, dass sich irgendein Skorpion darunter verbarg. Aber es befanden sich weder ein Skorpion oder eine Schlange noch Liramünzen darunter, nur ein Loch vom Durchmesser einer Pampelmuse, aus dem Licht fiel. Rubi versuchte, in das Loch hineinzuspähen, doch das Licht blendete ihn. Er zögerte eine Sekunde, und dann steckte er seine Hand hinein, den ganzen Arm, bis zur Schulter. Er legte sich flach auf die Erde und bemühte sich, etwas zu berühren. Den Boden des Lochs. Doch das Loch hatte keinen Boden, und das Einzige, das er zu fassen bekam, fühlte sich an wie kaltes Metall. Wie ein Griff. Ein Griff von einem Kaugummiautomaten. Rubi drehte mit aller Kraft daran und spürte, wie der Mechanismus nachgab. Jetzt war der Augenblick gekommen, in dem ein runder Kaugummi herausrollen sollte, den ganzen Weg aus den metallischen Eingeweiden des Automaten bis in den Handteller des aufgeregten Jungen, der ungeduldig darauf wartete. Jetzt war der Augenblick, in dem all das passieren musste. Aber es geschah nicht. In der Sekunde, in der Rubi die Drehung des Automatengriffs vollendet hatte, tauchte er da auf.

    Dieses »da« war ein andrer, aber auch bekannter Ort. Der Ort aus dem Traum von seiner Mutter. Ganz und gar weiß, ohne Wände, ohne Boden, ohne Decke, ohne Sonne. Nur Weiß, und ein Kaugummiautomat. Ein Kaugummiautomat, und ein kleiner gedrungener, hässlicher rothaariger Junge, den Rubi beim ersten Blick irgendwie zu übersehen geschafft hatte. Und bevor Rubi dazu kam, den Jungen anzulächeln oder etwas zu sagen, trat ihm der Rotschopf auch schon mit aller Gewalt ans Bein, und er brach in die Knie. Jetzt, als er stöhnend vor Schmerzen auf den Knien hockte, befanden sich Rubi und der Junge genau auf gleicher Höhe. Der Rotschopf blickte Rubi in die Augen, und obwohl Rubi wusste, dass sie sich nie begegnet waren, hatte dieser Junge irgendwas Bekanntes.
    »Wer bist du?«, fragte er den rothaarigen Jungen, der schnaufend vor ihm stand.
    »Ich?«, lächelte der Rotschopf bösartig, wobei er einen fehlenden Schneidezahn entblößte. »Ich bin deine erste Lüge.«
    Rubi versuchte aufzustehen. Das Bein, gegen das der Rotschopf getreten hatte, tat irrsinnig weh. Der Rotschopf selbst war schon längst davongerannt. Rubi begutachtete den Kaugummiautomaten aus der Nähe. Zwischen den runden Kaugummis versteckten sich halbtransparente Plastikkugeln, die Überraschungen enthielten. Er durchwühlte seine Taschen auf
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