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Plötzlich klopft es an der Tür: Stories (German Edition)

Plötzlich klopft es an der Tür: Stories (German Edition)

Titel: Plötzlich klopft es an der Tür: Stories (German Edition)
Autoren: Etgar Keret
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Kaugummi legte er unters Kissen, für seine Mutter, falls sie im Traum zurückkommen sollte.

    In den ersten Tagen dachte Rubi noch eine Menge daran, an diesen Ort, an den Hund, an Igor, an seine anderen Lügen, die er zum großen Glück nicht getroffen hatte. Da war diese sonderbare Lüge, die er einmal Ruthi, seiner früheren Freundin, erzählt hatte, als er nicht zum Freitagabendessen bei ihren Eltern erschienen war, eine Lüge von seiner Nichte, die in Natania wohnte und mit einem gewalttätigen Mann verheiratet war, wie dieser gedroht hätte, sie umzubringen, und Rubi dort hinmusste, um die Gemüter zu beruhigen. Bis heute wusste er nicht, warum er diese abartige Geschichte erfunden hatte. Vielleicht dachte er damals, je komplizierter und schräger er etwas erfände, desto mehr würde sie ihm glauben. Es gibt Menschen, die, wenn sie nicht zum Freitagabendessen erscheinen, einfach sagen, dass sie Kopfschmerzen haben, aber bei ihm, wegen diesen Geschichten, lebten jetzt nicht weit von hier in irgendeinem Loch in der Erde ein wahnsinniger Ehemann und eine verprügelte Frau.
    Er kehrte nicht zu dem Loch zurück, aber etwas von diesem Ort blieb in ihm zurück. Am Anfang log er noch weiter, aber solche positiven Lügen, wo nicht geschlagen, gehinkt oder an Krebs gestorben wurde. Er kam zu spät zur Arbeit, weil er die Blumentöpfe in der Wohnung seiner Tante gießen musste, die ihren erfolgreichen Sohn in Japan besuchen gefahren war; zu irgendeiner Feier wegen der Geburt einer Tochter kam er nicht, weil eine Katze fast vor seiner Tür geworfen hatte und er sich um die Jungen kümmern musste. Solche Sachen. Doch das Problem mit diesen ganzen positiven Lügen war, dass sie viel komplizierter zu erfinden waren. Wenigstens solche, die sich überzeugend anhörten. Überhaupt, wenn du den Leuten was Schlimmes erzählst, nehmen sie dir das sofort ab, das klingt normal für sie. Wenn du aber gute Sachen erfindest, tendieren sie zu Misstrauen. Und so stellte Rubi langsam und allmählich fest, dass er immer weniger log. Aus Faulheit hauptsächlich. Und mit der Zeit dachte er auch weniger an diesen Ort. An das Loch. Bis zu dem Morgen, an dem er auf dem Korridor Natascha vom Budget mit dem Abteilungsleiter reden hörte. Sie bat ihn, ihr für ein paar Tage dringend Urlaub zu geben, da ihr Onkel Igor einen Herzinfarkt gehabt habe. Ein armer Tropf, glückloser Witwer, der bei einem Verkehrsunfall in Russland schon seine beiden Hände verloren habe und jetzt das noch, er sei so einsam und hilflos. Der Abteilungsleiter genehmigte den Urlaub, und Natascha ging in ihr Büro, nahm ihre Tasche und verließ das Gebäude. Rubi folgte ihr bis zu ihrem Auto. Als sie stehenblieb, um den Schlüssel aus der Tasche zu holen, blieb er auch stehen. Sie drehte sich zu ihm um.
    »Du arbeitest im Einkauf«, sagte sie zu ihm, »der Assistent von Zagori, stimmt’s?«
    »Ja«, nickte Rubi, »ich heiße Rubi.«
    »Wallah, Rubi«, sagte Natascha mit einem nervösen russischen Lächeln, »also worum geht’s? Brauchst du was?«
    »Es ist wegen deiner Lüge, von vorher, beim Abteilungsleiter«, stotterte Rubi, »ich kenne ihn.«
    »Bist du mir den ganzen Weg zum Auto nachgegangen, nur um mich zu beschuldigen, dass ich eine Lügnerin bin?«, zischte Natascha.
    »Nein«, verteidigte sich Rubi, »ich beschuldige dich gar nicht, echt nicht. Dass du eine Lügnerin bist, geschenkt, wenn’s dir Spaß macht. Ich bin auch ein Lügner. Aber dieser Igor, aus deiner Lüge, ich habe ihn getroffen. Er ist ein Goldmensch. Und du, entschuldige, wenn ich das sage, aber du hast schon genug Leiden für ihn erfunden. Ich wollte dir also nur sagen, dass …«
    »Würdest du mal zur Seite rücken?«, schnitt ihn Natascha kühl ab. »Du behinderst mich dabei, die Autotür aufzumachen.«
    »Ich weiß schon, dass das unsinnig klingt, aber ich kann’s dir beweisen«, sagte Rubi drängend. »Er hat kein Auge, der Igor. Das heißt, er hat eins, aber nur eines. Einmal hast du gelogen und gesagt, dass er ein Auge verloren hat, stimmt’s?« Natascha, die schon dabei war, ins Auto einzusteigen, hielt inne.
    »Woher hast du das denn?«, fragte sie misstrauisch. »Bist du ein Freund von Slava?«
    »Ich kenne keine Slava«, stammelte Rubi, »nur Igor. Wirklich wahr, wenn du willst, kann ich dich zu ihm mitnehmen.«

    Sie standen im Hinterhof des Hauses. Rubi rückte den Stein weg. Legte sich auf den feuchten Boden und schob einen Arm in das Loch. Über ihm stand Natascha. Er streckte ihr
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