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Plötzlich klopft es an der Tür: Stories (German Edition)

Plötzlich klopft es an der Tür: Stories (German Edition)

Titel: Plötzlich klopft es an der Tür: Stories (German Edition)
Autoren: Etgar Keret
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der Suche nach einer Münze, doch da fiel ihm ein, dass es dem rothaarigen Jungen gelungen war, ihm die Geldbörse wegzuschnappen, bevor er geflüchtet war. Rubi begann in eine ungewisse Richtung zu hinken. Da es auf der weißen Fläche keinerlei Anhaltspunkt außer dem Kaugummiautomaten gab, konnte er als Einziges bloß versuchen, sich von ihm zu entfernen. Alle paar Schritte drehte er den Kopf nach hinten, um sich zu vergewissern, dass der Automat tatsächlich kleiner wurde, bis er bei einem der Male, als er sich umschaute, einen Schäferhund und daneben einen mageren alten Mann mit einem Glasauge und zwei Handstümpfen erblickte. Den Hund erkannte er gleich an der Art, wie er sich halb kriechend fortbewegte, wobei seine Vorderbeine mit enormer Anstrengung sein gelähmtes Becken nachzogen. Es war der angefahrene Hund aus der Lüge. Der Hund, der vor Anstrengung und Aufregung hechelte, freute sich, ihn zu sehen. Er leckte Rubis Hand und fixierte ihn aus glänzenden Augen. Den mageren alten Mann konnte Rubi nicht identifizieren. Der Alte streckte den Haken, der an seinem rechten Handstumpf befestigt war, zu einem improvisierten Händedruck aus.
    »Rubi«, sagte Rubi und nickte.
    »Igor«, stellte sich der Alte vor und klopfte mit einem der Haken auf Rubis Rücken.
    »Kennen wir uns?«, fragte Rubi nach einigen Sekunden schweigenden Zögerns.
    »Nein«, sagte Igor und angelte sich die Hundeleine mit Hilfe eines seiner Haken, »ich bin wegen ihm hier. Er hat dich kilometerweit gerochen und war ganz aufgeregt. Wollte, dass wir kommen.«
    »Dann haben ich und du also überhaupt nichts miteinander zu tun«, meinte Rubi mit einem Gefühl der Erleichterung.
    »Ich und du?«, gab Igor zurück. »Wirklich gar nichts. Ich bin die Lüge von jemand anderem.« Rubi hätte Igor nur allzu gern gefragt, wessen Lüge er denn sei, doch er war sich nicht sicher, ob diese Frage hier höflich war. Überhaupt wollte er ihn fragen, was dieser Ort eigentlich genau war und ob es hier noch viele Leute gab oder Lügen, oder wie immer sie sich auch nennen mochten, aber er fürchtete, auch das wäre eine zu heikle Frage. Also streichelte er, anstatt zu reden, den verkrüppelten Hund von Igor. Der Hund war ein lieber Kerl. Es sah so aus, als freute er sich tatsächlich riesig, Rubi zu treffen, und Rubi hatte Mitleid mit dem invaliden Tier und fühlte sich schuldig, dass er keine weniger leidvolle und schmerzhafte Lüge erfunden hatte.
    »Der Kaugummiautomat«, fragte er Igor nach einigen Minuten, »mit was für Münzen funktioniert er?«
    »Liras«, antwortete der Alte.
    »Da war vorher irgend so ein Junge da«, sagte Rubi, »hat mir die Geldbörse weggenommen. Aber auch wenn er sie mir gelassen hätte, wären keine Liras drin gewesen.«
    »Ein Junge mit Zahnlücke?«, fragte Igor. »Dieser Schurke klaut von allen. Sogar dem Hund frisst er das Bonzo weg. Bei uns in Russland würde man ein solches Kerlchen in Unterhemd und Unterhose in den Schnee rausstellen und ihn erst wieder nach Hause lassen, wenn sein ganzer Körper blau angelaufen ist.« Igor deutete mit einem Haken auf seine hintere Hosentasche. »Da drinnen sind ein paar Liras. Nimm sie, ein Geschenk von mir.« Der betretene Rubi holte sich eine Liramünze aus Igors Tasche, und nachdem er sich bedankt hatte, versuchte er ihm als Gegengabe seine Swatchuhr anzubieten.
    »Danke«, lächelte Igor, »aber für was brauche ich eine Plastikuhr? Außerdem, ich hab’s nie irgendwohin eilig.« Und als er sah, dass Rubi nach etwas anderem suchte, das er ihm stattdessen geben könnte, beruhigte er ihn schnell: »Ich bin dir sowieso schon was schuldig. Wenn deine Lüge von dem Hund nicht gewesen wäre, wäre ich hier total allein. Jetzt sind wir also quitt.« Rubi hinkte rasch in Richtung des Kaugummiautomaten zurück. Der Tritt des rothaarigen Jungen schmerzte immer noch, allerdings weniger. Er steckte die Lira in den Automaten, tat einen tiefen Atemzug, schloss die Augen und drehte schnell am Griff.
    Er fand sich ausgestreckt auf dem Boden im Hof des alten Hauses wieder. Erstes Licht begann schon den Himmel in dunklen Blautönen zu färben. Rubi zog seine zur Faust geballte Hand aus dem tiefen Loch, und als er sie öffnete, entdeckte er einen runden, roten Kaugummi darin.
    Bevor er ging, schob er den Stein an seinen Platz zurück. Er fragte sich nicht, was in dem Loch dort eigentlich genau passiert war, sondern stieg bloß ins Auto ein, schaltete in den Rückwärtsgang und fuhr weg. Den roten
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