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Plötzlich klopft es an der Tür: Stories (German Edition)

Plötzlich klopft es an der Tür: Stories (German Edition)

Titel: Plötzlich klopft es an der Tür: Stories (German Edition)
Autoren: Etgar Keret
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nicht zur Kamera hinschauen, umarmen, »Papa, ich hab dich lieb« sagen. Er ist noch keine vier und begreift bereits, wie die Dinge funktionieren, mein süßer kleiner Sohn.
    Meine Frau ist weniger gelungen, sagt die Korrespondentin des öffentlich-rechtlichen deutschen Fernsehens. Harmoniert weniger. Sie ordnet die ganze Zeit ihre Haare, wirft verstohlene Blicke nach der Kamera. Allerdings ist das kein echtes Problem, man kann sie nachher beim Redigieren jederzeit rausnehmen. Das ist das Schöne am Fernsehen. Im richtigen Leben ist das nicht so. Im Leben kannst du sie nicht rausnehmen, löschen. Nur Gott kann das, oder ein Autobus, wenn er sie überfährt. Oder eine schwere Krankheit. Der Nachbar über uns ist Witwer, eine unheilbare Krankheit hat ihm seine Frau genommen. Kein Krebs, was anderes. Etwas, das in den Eingeweiden anfängt und böse endet. Ein halbes Jahr hat sie Blut gekackt. Das hat er mir zumindest erzählt. Ein halbes Jahr, bis der Gesegnet-sei-Er sie beim Redigieren komplett rausgenommen hat. Seit sie tot ist, kommen alle möglichen Frauen auf hohen Absätzen zu uns ins Haus, die nach billigem Parfüm riechen. Sie kommen zu den unerwartetsten Zeiten, manchmal sogar mittags. Er ist Rentner, unser Nachbar von oben, seine Zeit ist flexibel. Und die, laut meiner Frau jedenfalls, sind Nutten. Wenn sie »Nutten« sagt, wirkt das so natürlich bei ihr, als ob sie »Sellerie« sagen würde. Aber wenn man sie filmt, dann nicht. Niemand ist perfekt.
    Mein Sohn liebt die Nutten, die zu unserem Nachbarn von oben kommen. »Was für ein Tier bist du?«, fragt er sie, wenn er im Treppenhaus auf sie trifft. »Ich bin heute eine Maus. Eine flinke Maus, die davonsaust.« Und sie begreifen auf der Stelle und werfen den Namen eines Tieres zurück: Elefant, Känguruh, Schmetterling. Jede Nutte ein eigenes Tier. Das ist komisch, denn andere Leute, wenn er die nach den Tieren fragt, verstehen überhaupt nicht richtig, was er von ihnen will. Aber die Nutten harmonieren da voll.
    Was mich auf den Gedanken bringt, dass ich vielleicht beim nächsten Mal, wenn ein Filmteam kommt, eine von ihnen statt meiner Frau herbringe, was sich natürlicher machen würde. Sie schauen toll aus, billig aber toll, und auch mein Sohn kommt viel besser mit ihnen zurecht. Wenn er meine Frau fragt, welches Tier sie ist, beharrt sie immer darauf: »Ich bin kein Tier, mein Schatz, ich bin ein Mensch. Ich bin deine Mama.« Und dann fängt er regelmäßig zu weinen an.
    Warum harmoniert sie nicht, meine Frau? Warum fällt es ihr leicht, zu Frauen mit billigem Parfüm »Nutten« zu sagen, aber zu einem kleinen Jungen, »Ich bin ein Känguruh«, grenzt für sie an Unmögliches? Es macht mich wütend, macht mir Lust zu schlagen. Nicht sie, sie liebe ich, aber irgendjemanden. Meinen Frust auf jemandem abzuladen, der es verdient. Rechte können ihre ganze Wut immer an Arabern auslassen. Rassisten an Schwarzen. Aber wir von der liberalen Linken stehen auf dem Schlauch. Wir haben uns selber geknebelt, wir haben niemand, über den wir herfallen können. »Nenn sie nicht Nutten«, sage ich grollend zu meiner Frau, »du weißt ja gar nicht, ob sie Nutten sind, du hast nicht gesehen, dass sie jemand bezahlt oder so was, also nenn sie nicht so, gut? Wie würdest du dich fühlen, wenn dich jemand Nutte nennt?«

    »Sehr schön«, sagt die deutsche Korrespondentin, »ich liebe das. Die Falte auf der Stirn. Der schnelle Rhythmus beim Tippen. Jetzt fehlt nur noch, einen Zwischencut von einigen fremdsprachigen Übersetzungen ihrer Geschichtenbände zu schießen, um unsere Zuschauer wissen zu lassen, dass Sie erfolgreich sind, und noch einmal diese Umarmung von Ihrem Sohn – beim ersten Mal ist er zu schnell gerannt, und Jörg, unser Kameramann, hat es nicht geschafft, den Fokus rechtzeitig darauf einzustellen.« Meine Frau fragt, ob die Deutsche auch sie noch einmal für eine Umarmung braucht, und ich bete im Herzen, dass sie ja sagt. Ich hätte so gerne, dass mich meine Frau wieder umarmt, dass sich ihre glatten Arme um mich schließen, als gäbe es nichts außer uns auf der Welt. »Nicht nötig«, sagt die Deutsche in kühlem Ton zu ihr, »das haben wir schon.«
    »Was für ein Tier bist du?«, fragt mein Sohn die Deutsche, und ich beeile mich, es ins Englische zu übersetzen.
    »Ich bin kein Tier«, lacht sie und fährt ihm mit ihren langen Fingernägeln durchs Haar, »ich bin ein Monster. Ein Monster, das von der anderen Seite des Ozeans gekommen ist, um
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