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Plötzlich klopft es an der Tür: Stories (German Edition)

Plötzlich klopft es an der Tür: Stories (German Edition)

Titel: Plötzlich klopft es an der Tür: Stories (German Edition)
Autoren: Etgar Keret
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Diezengoffstraße erfasst er, dass er zum Meer will. Er geht weiter bis zur Promenade und von dort an den Strand hinunter. Er zieht die Schuhe und die Socken aus und bleibt an der Stelle stehen, häufelt den Meersand zwischen seinen Zehen. Hinter sich kann er den Verkehrslärm von der Straße und Trance-Musik vernehmen, die anscheinend aus einer der Kioskbuden bricht. Vor sich hört er das Geräusch der Wellen, die an der nicht weit von dort entfernten Mole zerbersten.
    »Entschuldigung«, sagt ein Junge mit militärisch geschorenem Haarschnitt zu ihm, der aus dem Nichts mit einem Mal neben ihm auftaucht. »Sind Sie von hier? Aus Tel Aviv?« Der mit dem Pflaster nickt. »Wow, cool«, sagt der mit dem Haarschnitt, »vielleicht wissen Sie, wo man hier Spaß haben kann?« Der mit dem Pflaster könnte versuchen, ihn zu fragen, von welcher Sorte Spaß die Rede ist: Alkohol? Mädchen? Ein unklarer Ausbruch von Wärme, der dir die Brust überschwemmt? Aber was soll’s, er weiß von keinem einzigen dieser Dinge, wo es zu finden ist, also macht er bloß eine verneinende Kopfbewegung. Der mit dem Haarschnitt jedoch lässt nicht locker. »Sie haben aber doch gesagt, dass Sie von hier sind, oder?« Der mit dem Pflaster gibt keine Antwort, blickt nur zu dem fernen Punkt hin, an dem das Schwarz des Meeres die Schwärze des Himmels trifft. Interessant, was wohl mit diesem Avner passiert ist, denkt er sich, ich hoffe, dass sich am Schluss doch noch alles eingerenkt hat.

Welches Tier bist du?
    Die Sätze, die ich jetzt schreibe, sind für die Zuschauerschaft des öffentlich-rechtlichen deutschen Fernsehens. Eine Fernsehkorrespondentin, die heute zu mir nach Hause kam, bat mich, etwas auf dem Computer zu tippen, denn das fotografiert sich immer prächtig: ein schreibender Schriftsteller. Es ist ein Klischee, sie weiß, aber Klischees seien alles in allem der unerotische Aggregatzustand der Wahrheit, und ihre Aufgabe, als Korrespondentin, sei es, diese Wahrheit in etwas zu verwandeln, das sexy sei, die Klischees mit Hilfe von Licht und überraschenden Aufnahmewinkeln zu brechen. Der Lichteinfall bei mir zu Hause sei herrlich, ohne dass man auch nur einen Scheinwerfer einschalten müsse, so dass bloß noch fehlte, dass ich schreibe.
    Am Anfang tat ich so, als ob ich schreibe, aber sie sagte zu mir, das sei es nicht. Dass man gleich sehen würde, dass ich nur so tue als ob. »Schreiben Sie tatsächlich«, forderte sie mich auf und betonte dann: »Eine Geschichte. Nicht bloß eine Wortfolge. Schreiben Sie es ganz natürlich, wie Sie immer schreiben.« Ich sagte zu ihr, es sei nicht natürlich für mich zu schreiben, während man mich fürs öffentlich-rechtliche deutsche Fernsehen filmte, aber sie beharrte darauf.
    »Dann benutzen Sie das«, sagte sie. »Schreiben Sie diese Geschichte genau darüber. Darüber, wie unnatürlich das ist und wie aus dieser Unnatürlichkeit plötzlich etwas herausbricht: etwas Echtes, voller Lust und Leidenschaft. Etwas, das Ihr Gehirn überflutet bis in die Lendengegend. Oder umgekehrt, ich weiß nicht, wie das bei Ihnen funktioniert. Das heißt, von wo genau das Schaffen bei Ihnen im Körper ausgeht. Das ist sehr individuell.« Sie erzählte mir, dass sie einmal einen belgischen Schriftsteller interviewte, der sich immer, wenn er schrieb, im Erektionszustand befand. Etwas beim Schreiben »verhärtete ihm das Glied« – das war der Ausdruck, den sie benutzte. Es war sicher eine wörtliche Übersetzung aus dem Deutschen, aber im Englischen klang es äußerst merkwürdig.
    »Schreiben Sie«, verlangte sie wieder. »Wunderbar. Ich liebe Ihre grauenhafte Haltung, wenn Sie schreiben, der eingezogene Hals. Das ist einfach herrlich. Schreiben Sie weiter, ausgezeichnet. So, ganz natürlich. Bemerken Sie mich gar nicht, vergessen Sie, dass ich hier bin.«
    Also schreibe ich weiter, bemerke sie gar nicht, vergesse, dass sie da ist, und bin natürlich. So viel ich nur kann. Ich habe eine Rechnung offen mit dem öffentlich-rechtlich deutschen Fernsehpublikum, doch hier ist nicht der Moment, sie zu begleichen. Jetzt ist der Moment zu schreiben. Sinnige Dinge zu schreiben, denn Blödsinn schreiben, das hat sie mir schon erklärt, fotografiert sich ganz und gar nicht gut.

    Mein Sohn kommt aus dem Kindergarten heim. Er rennt zu mir und umarmt mich. Immer wenn Fernsehteams bei uns zu Hause sind, gibt es eine Umarmung. Am Anfang mussten die Fernsehleute ihn darum bitten, aber jetzt ist er schon konditioniert: rennen,
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