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Waldesruh

Waldesruh

Titel: Waldesruh
Autoren: Susanne Mischke
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D er Nachmittag zog sich in die Länge wie ein alter Kaugummi. Emily hatte keine Lust mehr zu malen. Sie tauchte den Pinsel in das Wasserglas und beobachtete, wie sich rote Wolkengebilde in der durchsichtigen Flüssigkeit formten.
    »Ein Blutbad«, würde Marie wohl dazu sagen und sich sicher gleich eine Geschichte dazu ausdenken – vielleicht von einem Vampir.
    Ob sie Marie anrufen sollte? Aber sie war erst vorgestern bei ihr gewesen und letzte Woche auch schon dreimal. Nein, Emily wollte nicht nerven und vor allen Dingen wollte sie niemanden spüren lassen, wie einsam sie sich fühlte, auch nicht Marie.
    Ein leiser Groll machte sich in ihr breit. Dieser verdammte Umzug! In Köln war ihr nie langweilig gewesen, sie hatte viele Freundinnen gehabt: Lisa, Jennifer, Kira, Yvonne, Svenja... Wahrscheinlich waren sie gerade zusammen im Schwimmbad und hatten jede Menge Spaß...
    Bei diesem Gedanken konnte Emily nicht verhindern, dass sich eine Träne aus ihrem Augenwinkel stahl. Wütend wischte sie sich übers Gesicht. Jetzt schrieben sie sich zwar noch SMS und E-Mails, aber das war nicht mehr das Gleiche.
    Warum musste ihr Vater auch diese blöde Stelle in Hannover antreten! Obwohl – jetzt wurde sie ungerecht. Emily wusste, wie sehr er sich diesen neuen Job gewünscht hatte.
    »Du wirst bald wieder Freundinnen finden, hab ein bisschen Geduld«, versuchte ihre Mutter sie fast täglich zu trösten. Bald? Immerhin wohnten sie schon seit Ostern in diesem faden Vorort von Hannover. Jetzt war Juni und ihre Klassenkameradin Marie war die Einzige, mit der sich Emily verabredete.
    Außer Marie gab es in ihrer Klasse ein Quartett übler Zicken, von denen sich Emily instinktiv fernhielt, und eine Handvoll Mädchen, die sie freundlich, aber distanziert behandelten.
    Alle kannten sich schon seit der Grundschule, sie waren eine verschworene Gemeinschaft und hatten offensichtlich wenig Lust auf die Neue. Die zwölf Jungs der 9b konnte man ohnehin vergessen, das waren ausnahmslos Kindsköpfe, darin unterschieden sie sich überhaupt nicht von denen in ihrer alten Klasse.
    Blieb Marie. Marie war anders, schon allein, weil sie die Jüngste der Klasse war, sie hatte im vergangenen Schuljahr eine Jahrgangsstufe übersprungen. Beim Zickenquartett hieß sie deshalb auch nur »Miss Einstein« oder »Strebersau«. Dabei war Marie eher das Gegenteil einer Streberin, sie musste nicht viel lernen, ihr flog alles zu.
    Emily lernte zwar nicht so mühelos wie Marie, aber die Mädchen fanden schnell heraus, dass sie gemeinsame Interessen hatten, die jenseits von Klamotten und Frisuren lagen: Beide lasen viel, beide hielten sich am liebsten draußen auf. Emily malte und zeichnete gern, während Marie alles liebte, was mit Technik, Mathematik und Physik zu tun hatte. Darüber hinaus war sie handwerklich ziemlich geschickt. Letzte Woche hatten sie in stundenlanger Arbeit ein Baumhaus gebaut. In gefährlicher Höhe hatten sie mit Brettern, Hammer, Nägeln und Säge hantiert.
    Hätte Mama das gesehen, sie hätte glatt einen Anfall bekommen, dachte Emily und konnte bei diesem Gedanken schon wieder lächeln.
    »Ein Baumhaus? Das ist doch was für kleine Kinder«, hatte Maries sechzehnjährige Schwester Janna abfällig bemerkt.
    Aber das Baumhaus war kein Abenteuerspielplatz für sie. Es war ihr Refugium, ein Ort fernab von jeglichem Zickenterror, an dem man lesen, träumen, erzählen oder einfach nur abhängen konnte, ohne dass einen jemand störte.
    Sie hatten sogar verabredet, demnächst einmal dort zu übernachten.
    Emily gähnte und sah unschlüssig auf die Uhr. Erst halb vier. Der halbe Nachmittag lag vor ihr.
    Ach, was soll’s, dachte sie. Sie würde Marie einfach anrufen. Besser, als hier zu Hause herumzusitzen. Wenn ich nerve, wird sie es schon sagen.
    Entschlossen griff sie zu ihrem Handy und wählte Maries Nummer zu Hause. Nachdem es sehr lange geläutet hatte, meldete sich eine piepsige Kinderstimme. »Hallo?«
    »Moritz? Hier ist Emily. Kannst du mir bitte mal Marie geben?«
    »Nö.«
    Aufgelegt.
    »Mistkröte«, schimpfte Emily. In Situationen wie dieser war sie froh, ein Einzelkind zu sein. Marie gab ihr da uneingeschränkt recht – zumal sie fand, dass nicht nur Brüder, sondern auch große Schwestern mehr als entbehrlich seien. »Braucht man nicht wirklich«, lautete Maries Kommentar zu ihrer Schwester Janna.
    Emily drückte die Wahlwiederholung, aber das Telefon klingelte ins Leere. Was jetzt? Marie besaß kein Handy – auch so eine
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