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Pittys Blues

Pittys Blues

Titel: Pittys Blues
Autoren: Julia Gaebel
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hören, bis auf Dicks Atem, der schwer und stoßweise kam. Er guckte entgeistert auf Pitty, die jetzt endgültig wach war. Und sie schaute auf seine knallroten Ohren. Dick riss die Tür des Pick-ups auf.
    «Wer zum Teufel bist du denn?»Er beugte sich vor und hob einen Zweig auf. Er wischte damit fahrig durch die immer dicker werdende Schneeschicht.
    Pitty antwortete nicht. Sie sah aus, als überlege sie fieberhaft, wer sie sei und was sie an diesem Ort mache.
    Auch Dick schien sich irgendetwas zu fragen. Dann drehte er sich unvermittelt um und stapfte weg, aber nicht, ohne den sprachlosen Zuschauern ein«Seid ihr jetzt zufrieden? Was glotzt ihr denn so? Habt ihr nichts zu tun?»vor die Füße zu rotzen.
    Dick fühlte sich gar nicht wohl in seiner Haut. Er fühlte sich verarscht, er fühlte sich ganz böse verarscht.
    Und das Rauschen in seinen Ohren war so laut, dass er nicht hörte, wie Pitty leise«Ich bin Pitty»sagte.
     
    In die Leute kam wieder Bewegung. Sie wuselten durcheinander. Jeder schien urplötzlich wichtige Aufgaben zu haben, die keinerlei Aufschub vertrugen. Nur Jones stand vor dem Pick-up und sah Pitty an.
    «Alles in Ordnung mit dir?»wandte er sich behutsam an sie und wartete geduldig, bis sie ihren Blick auf ihn richtete. Pitty nickte, öffnete den Mund und schloss
ihn wieder, ohne einen Mucks gesagt zu haben. Jones hob die Augenbrauen und lächelte.«Ich mach das schon», sagte er und stiefelte hinter Dick her.
    Niemand achtete in all der Betriebsamkeit auf Pitty, die sich langsam aufrichtete, ausstieg, ihre Kleider glatt strich und sich mit den Fingern im Haar nestelte.
    Pitty ging. Sie ging und war froh, dass es keiner der Anwesenden bemerkte. Sie wollte keine Aufmerksamkeit. Sie folgte Jones. Jones und Dick.
     
    Pitty hat mit Pflanzen und mit Tieren geredet und Dinge gesehen. Für Pitty war das normal. Sie hatte Antennen, hat mir Moe später erklärt. Moe hat mir auch erzählt, dass Pitty durch den Vorhang in eine andere Welt sehen konnte, dass für sie Realität etwas anderes war.
    Moe war mein Freund. Er hatte eine kleine Hütte nördlich der Stadt, am Fluss. Moe hat immer gesagt, er mag den Fluss dort, wo das Wasser noch nicht den Dreck der Stadt in sich aufgenommen hat. Er meinte nicht den Müll, Dosen und Flaschen oder so. Er sprach von«Ausscheidungen des Geistes», so hat er es gesagt. Er war oft bei Tulipe, hat ihr geholfen. Tulipe und ich, wir waren Moes Freunde. Meine Mom wollte nicht, dass ich zu Tulipe ging, sie meinte, Tulipe sei eine Gottlose, eine Gefallene. In Tulipes Bar kamen immer viele Menschen, und Tulipe war sehr schön und klug. Und tolle Musik gab es dort.
    Tulipes Bar war eine alte Mühle unten am Fluss, deren Wasserrad schon vor Jahrzehnten auseinandergebrochen war. Niemand wusste genau, wann dort zum
letzten Mal im ursprünglichen Sinne gearbeitet worden war, aber jeder konnte exakt sagen, wann Tulipe den Tresen im Sugarclub aufgebaut hatte und wann die ersten Takte Blues die Grashalme am Ufer hatten erzittern lassen.
    Durch die Vordertür hätte ich erst zehn Jahre später gehen dürfen, und selbst dann hätte ich noch eine gehörige Tracht Prügel von meiner Mutter bekommen, garantiert. Mein Weg zur Musik war ein anderer: Der Hintereingang lag versteckt unter einer gewaltigen Weide, deren Krone im Sommer die gesamte Hütte im Schatten verschwinden ließ. Ich musste mich zwischen ihren Stamm und das im Lauf der Zeit pelzig gewordene Holz des Sugarclubs zwängen, und zwar mit dem Gesicht zum Stamm. Der Hintertür verpasste ich einen kräftigen Schubs mit meinem Hosenboden, dann ging sie knarrend auf. Ich war der Einzige, der da durchpasste. Ich war ja auch der Einzige, der noch minderjährig war und sich trotz Verbotes dort aufhielt. Die Tür war auch nie verriegelt, obwohl Tulipe und Moe bestimmt um meinen Geheimgang wussten.
    Zu der Hütte gehörte ein Bootsanleger, dessen helles, frisches Holz leuchtete. Moe hatte ihn ein paar Monate zuvor erneuern müssen, nachdem sein Kumpel Pinkin nach einer langen Nacht durch die Planken gekracht war. Pinkin hing stundenlang fest, weil sein Bierbauch nicht durchpasste. Er kam weder vor noch zurück. Bis Tulipe ihn morgens fand, schlafend, mit dem Doppelkinn auf der Brust und den Zehen im Wasser. Der Steg war hin, Pinkin war hungrig und Tulipe sauer.

    Jetzt saß Dick da, auf dem hellen, kalten, feuchten Steg, ließ die Beine baumeln und seinen Blick am anderen Ufer festfrieren, das man durch das Schneetreiben nur noch
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