Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Pittys Blues

Pittys Blues

Titel: Pittys Blues
Autoren: Julia Gaebel
Vom Netzwerk:
in Rickville.

DER ERSTE TAG

    D as Zittern wanderte von oben nach unten durch Ben Simmons’ krötigen Körper, von den Haarwurzeln bis zu seinem linken großen Zeh. So hilflos hatte er sich lange nicht mehr gefühlt. Es stand ein paar Meter entfernt vor ihm, dieses Ding. Es versperrte ihm den Weg. Nirgends war Platz genug, sich vorbeizuzwängen. Wie ein Pilz war es über Nacht zwischen den beiden dicken Eichen aus dem Boden geschossen. Es sah genauso ungesund aus und war bestimmt so durchlöchert wie diese schwabbeligen, stinkenden Teile. Mit Respekt und Kennerblick musterte er den vor ihm aufragenden Pick-up. Totgefährlich, das stand für Simmons fest. Wenn er sich keine Blutvergiftung holen wollte, musste er sehr vorsichtig sein. Handschuhe. Er brauchte Handschuhe. Um sich zu schützen. Sonst würde dieser Ort ihn das Leben kosten. Umkehren konnte Simmons jetzt nicht mehr, es war erst morgens, und vor mittags ging er nie nach Hause. Er musste einen Weg an dem Pick-up vorbei finden. Ob er wollte oder nicht. Kalter Schweiß breitete sich auf Simmons’ Stirn aus. Ausgerechnet ihm musste das passieren, ihm, der doch, seitdem er denken konnte, ordentlich und korrekt gewesen war. Ihn sollte also die chaotische Lebensweise anderer Menschen frühzeitig das Leben kosten?

    Ben Simmons ging morgens immer um sieben Uhr aus dem Haus. Frisch rasiert, mit gestärktem Hemd und einem durchdringenden Duft nach Eau de Cologne, der den Rest des Tages um ihn herumwaberte. Er war auf die Einhaltung von Regeln bedacht, besonderes Augenmerk legte er darauf, dass vor allem andere seine Regeln einhielten. Die aber scherte das einen Dreck.
    Blutvergiftung, ganz klar. Simmons sog die Luft zischend durch die Zähne ein. Er hatte sich sein Ende weniger profan vorgestellt, und nur, weil jemand seine rostige Scheißkarre hier hingestellt hatte, würden seine Vorstellungen, wie es mit seinem Leben enden sollte, über den Haufen geworfen werden.
    Über ein normales Auto hätte er noch drüberklettern können. Aber das hier war ein ausgewachsener, fetter Pick-up, der seinen Weg blockierte. Er spürte, wie der Rost sich durch seinen Organismus fraß, man würde Stück für Stück die Gliedmaßen seines Körpers amputieren müssen, bis nur noch der Torso übrig blieb. So würde er garantiert nie eine Frau finden. Aber darüber müsste er sich auch keine Gedanken mehr machen, dieser Wagen würde ihn ohnehin vorher das Leben kosten.
    Simmons spuckte verächtlich aus. Wählte er den Weg durch die Dornen, vorbei an dem Pick-up, würde das Ergebnis nicht anders ausfallen, da war er sich sicher. Seine Beine würden vollkommen zerkratzt. Aber er bräuchte immerhin keine Handschuhe. Das war ein Argument. Er könnte natürlich auch unter dem Auto durchkrabbeln. Simmons hockte sich umständlich hin,
stützte den rechten Arm auf seinem Oberschenkel ab und lugte unter dem Gefährt durch. Krabbeln war unmännlich, keine Frage. Und Ben Simmons war vieles, aber unmännlich war er nicht.
    Und wenn er durch den Wagen kletterte? Ganz schnell Tür auf, über die Bank, Tür auf und raus. Simmons trat einen großen Schritt zurück und betrachtete den Truck aus der - seiner Meinung nach - halbwegs sicheren Entfernung von ungefähr drei Metern.
    Ja, das ließe sich machen. Simmons beglückwünschte sich zu seiner Idee und schnalzte mit der Zunge.
    Augen zu und durch, dachte er, holte tief Luft und beugte seinen Oberkörper vor. Er hatte keine Ahnung, wozu das gut sein sollte, aber er hatte das mal auf einem Foto gesehen, das von Läufern gemacht worden war.
    Erster Schritt, zweiter Schritt, dritter Schritt, er schien nicht vorwärtszukommen. Nach fünfzehn Trippelschritten war er noch eine Armlänge vom Truck entfernt. Es roch modrig, dreckig, feucht. Ein Nährboden für unsäglich viele Krankheiten. Simmons reckte sich und warf mit langem Hals einen Blick ins Wageninnere. Er erschrak. Sein Herz setzte aus. Alles hatte sich gegen ihn verschworen.
    Der einzig akzeptable Weg war ihm verbaut. Denn ebenso wie der Pick-up sich gedacht hatte, dass dieser Ort ein guter Ort war, um Ben Simmons im Weg zu stehen, hatte sich wiederum jemand anders die Sitzbank des Pick-ups zum Schlafplatz erkoren. Da lag jemand! Am liebsten wäre Ben Simmons weggelaufen, aber das ging ja nicht. Seine Neugier gewann die Oberhand, er
lugte noch einmal durchs Fenster. Das war nicht nur ein Mensch, das war eine junge Frau.
    Was sollte er bloß tun? Sollte er sie wecken? Er kannte dieses Wesen nicht,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher