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Pittys Blues

Pittys Blues

Titel: Pittys Blues
Autoren: Julia Gaebel
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so. Wenn jemand langsam ist, denken sie, macht er das mit Absicht.
     
    Pitty wusste, wie gesagt, im Gegensatz zu allen anderen Menschen, dass dieser Mittwoch ein besonderer Tag für sie werden würde. Sie war ins Bett gegangen, nachdem Jenna-Mae ihretwegen wieder die Fassung verloren hatte, und hatte sich unruhig hin- und hergeworfen. Kaum eingeschlafen, wachte sie wieder auf und war sich sicher, sie musste gehen. Es würde nicht besser werden. Sie fühlte sich nicht wohl in ihrem Bett, sie fühlte sich nicht zu Hause. Also stand sie auf, zog sich an und verließ das Haus. Es war fast Vollmond, der Himmel war klar, und Pitty machte sich auf den Weg.
    Stundenlang lief sie herum, bis sie im kalten blauen Mondlicht vor dem Pick-up stand und wusste, hier würde sie bleiben.
    Sie hatte den Wagen bisher nur ein einziges Mal gesehen. Pitty erinnerte sich. Sie sah die Situation verschwommen vor sich. Ihre Erinnerung nahm Gestalt an und sie sah den Pick-up so, wie er ausgesehen hatte an jenem Tag, an dem sie ihn zum ersten und letzten Mal gesehen hatte. Sie war damals noch ein kleines Mädchen gewesen, mehrere Tage verschwunden, unterwegs, wie jetzt auch. Die Sonne war gerade untergegangen, und
sie hatte nicht nach Hause gehen wollen. Sie war auf das Auto zugegangen, hatte dessen damals bereits rauen Lack berührt. Es war schwül gewesen, und in der Luft hatten schwere Düfte, die Fäulnis und Moder, Blüten und Gras vereinten, ihre Spuren hinterlassen.
    Pitty erinnerte sich daran, dass sie die Fahrertür hatte öffnen wollen, dann aber nur am Trittbrett hochgeklettert war und durch das Fenster geschaut hatte. Sie hatte einen Jungen dort liegen sehen. Dann hatte sie doch die Tür geöffnet und den Jungen angestupst. Er hatte sich nicht gerührt. Sein leerer Blick war auf das Lenkrad gerichtet gewesen.
    Pitty stand vor dem Pick-up, in dessen Gegenwart sie sich trotz dieser Erinnerung mehr zu Hause fühlte als in ihrem eigenen Bett. Ihr war warm geworden, als sie den Pick-up gesehen hatte. Sie hatte sich ein Plaid und ein Kissen mitgenommen. Sie war vielleicht langsam, aber blöd war sie nicht. In eine Decke gekuschelt war es viel gemütlicher als ohne. Sie öffnete die Wagentür, breitete das Plaid auf der Sitzbank aus, legte sich darauf und schaute durch das Fenster in die Flecken Himmel, die die Bäume durch ihre Wipfel schimmern ließen. Sie war genau da, wo sie sein sollte. Das wusste sie.
    Das Dumme war nur, dass sie nicht sicher war, was sie jetzt machen sollte. Müde war sie nicht, dazu war sie viel zu aufgekratzt und unruhig. Mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass sie nicht mehr zurückgehen würde. Jeder andere Mensch hätte sich Gedanken darüber gemacht, dass er noch nicht einmal eine Zahnbürste dabeihatte. Pitty dachte nur, dass für sie etwas Neues
begonnen hatte, genau in dem Moment, in dem sie sich aus ihrer durchgelegenen Matratze hochgehebelt hatte. Und jetzt, da sie in diesem alten Pick-up lag, war sie sich sicher, dass es eben so sein musste, wie es war. Und dass es gut war, wie es war.
    Gemütlich war die Sitzbank nicht, die Metallfedern drückten sich durch die im Laufe der Jahre dünn gewordene Polsterung und die verschlissenen Sitzbezüge. Dazu roch es nach nassem Hund und faulen Eiern.
    Pitty schlief exakt bis zu dem Moment, als Dick in seinen Pick-up sah. Sie hatte nichts von Ben Simmons’ waghalsigem Stunt über die Ladefläche mitbekommen, ebenso wenig wie von denen, die sich um den wieder aufgetauchten Pick-up versammelt hatten wie um einen Weihnachtsbaum.
    Ebenso wenig hatte Pitty den Schnee bemerkt, der erst zögerlich, dann immer stärker fiel, sie hatte nicht gespürt, dass die Temperaturen abgesackt waren und Rickville nach und nach in Zuckerwatte eingehüllt wurde.
    Sie hatte geschlafen, so tief und so fest, dass nichts sie hätte aufwecken können.
    Vielleicht hat Pitty ihr Leben lang geschlafen, und Dick hat sie aufgeweckt. So wie im Märchen, nur ohne Kuss. Ohne Kuss, dafür mit einem Schrei.
    Der Schrei hallte durch die Gegend, bahnte sich einen Weg durch die wirbelnden Schneeflocken, an den Bäumen empor bis in die höchsten Wipfel und unter der Borke entlang bis zu den tiefsten Wurzeln. Er brachte den Wald und alle für einen Augenblick zum Schweigen.

    Nichts rührte sich, keine Maus raschelte durch die trockenen Blätter am Boden, kein Specht klopfte an einem Stamm, selbst der leichte Wind in den Bäumen hörte auf zu rauschen, der Fluss wirkte wie eingefroren. Kein Geräusch war zu
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