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Pilgern auf Französisch

Pilgern auf Französisch

Titel: Pilgern auf Französisch
Autoren: Coline Serreau
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nichts, auf Mingo ist Verlass, er wird das Obst nicht vergessen.
    Im Regen durchquert sie den Garten. Liebe Güte, wie dieser Garten aussieht! Eine einzige Brache. Und das Haus, das Dach... Der Putz blättert in großen Placken ab. Das ist nicht so schlimm, aber das Dach...
    Und da ist auch schon der Briefträger.
    Na, das ist keine Verspätung mehr, das ist eine Katastrophe!
    Drei Meter von seiner gelben Karre entfernt ist der Briefträger bereits durchnässt. Er reicht Clara die Post.
    »Das schüttet, was?«
    »Das kann man wohl sagen!«
    »Soll ich’s in den Briefkasten werfen?«
    »Nein, nein, ich nehme sie schon.«

    Clara geht zurück, wirft die Post auf die Konsole im Flur, auf der sich der ganze Krempel der Familie sammelt, und verlässt das Haus wieder.
    Im Regen bleibt sie im brachliegenden Garten stehen, erst jetzt fällt ihr auf, dass einer der Briefe einen Trauerrand trägt.
    Sie kehrt ins Haus zurück, nimmt den Brief, öffnet ihn, liest.

    Auch Pierre liest ihn — allein vor seinem weißen Flügel — , als er aus dem Büro nach Hause kommt, seinen brandneuen Superlaptop hat er im Flur abgestellt und die Krawatte gelockert.
    Édith ist irgendwo anders in der Wohnung und schüttet sich zu. Pierre hat es längst aufgegeben, die goldenen Fluten eindämmen zu wollen, in denen sie sich suhlt, es hat sowieso alles keinen Sinn mehr, und jetzt auch noch dieser Brief.
    Die Erinnerung an früher ist in den Neuronen gespeichert, eingeschlossen in unseren vollgepfropften Köpfen, und kann jederzeit wachgerufen werden. Manchmal quillt der eine oder andere Schwall hervor, der Mund könnte darüber sprechen... Aber dann legt sich das Schweigen wieder auf die Vergangenheit, denn es gibt keine Ohren, die davon hören wollen.

    Schritte hallen durchs Betontreppenhaus des sozialen Wohnungsbaus, Claude mit seinem hageren großen Körper durchschreitet den Eingangsbereich des Gebäudes.
    Gebäude ist nicht das richtige Wort — es ist eher eine Ansammlung von Verschlägen: Wände, die hochgezogen wurden, um die Habseligkeiten, Rohre, Fernsehgeräte und die einzelnen Leben der unteren Schichten zu verwahren.
    Claude geht zu den Briefkästen, die vollgeschmiert sind mit Graffiti, er öffnet das Fach ohne Schloss, ohne Schlüssel, die lose Tür steht für jeden offen.
    Desinteressiert blickt er hinein, ihm fallen die verschiedenen Rechnungen und Wurfsendungen entgegen, die der Kasten immer enthält. Er macht sich keine Gedanken. Wegen nichts. Er nimmt den schwarz umrandeten Brief heraus und liest ihn. Er sieht sich über einen Weg laufen, er ist fünf Jahre alt, eine Frau hebt ihn hoch und wirbelt ihn in ihren Armen herum. Seine Lippen an ihrem Hals, ein Schokoladencroissant...
    Er hat keine Tränen mehr, alles ist vorbei und vergessen.

    Clara betritt das Wartezimmer des Familienanwalts.
    Seit ihrem letzten Besuch bei Maître Dorlaneau vor zwanzig Jahren, nach dem Tod ihres Vaters, sind die Wandpaneele nachgedunkelt, die Samtsessel durchgesessen.
    Doch es riecht noch immer unverändert nach neunzehntem Jahrhundert: würzig und weich.
    Eine Gefühlsaufwallung überkommt sie, als die Sekretärin ihren Bruder in den Raum führt.
    Pierre nimmt so weit wie möglich von Clara entfernt Platz, schnappt sich eine Zeitschrift vom Tisch, zerreißt sie fast, als er sie aufschlägt, und sein Gesicht verschwindet hinter den Seiten.
    Nicht mal ein »Guten Tag«, ist ja klar.
    Schweigen senkt sich über den Raum, aufgeladen mit gewaltigen Schwingungen, die im Halbdunkel umherwirbeln.
    Clara hat den Blick aufs Fenster geheftet, ihr Blut kocht, der Schweiß perlt an den entsprechenden Stellen in ihrem Gesicht, sie schlüge am liebsten zu, möchte töten, und dennoch sähe sie nichts lieber als dieses Gesicht, das Gesicht, das ihr in dieser Welt das vertrauteste ist, vertrauter noch als die Gesichter ihrer Kinder. Ihren Bruder.
    Die Bilder und Buchstaben der Zeitschrift tanzen vor Pierres Augen, verschwimmen zu einem unleserlichen Brei. Seine Augen sind nach innen gerichtet, liegen verkehrt herum im Schädel, er hat Atemnot, sein Herz rast wie das einer frisch gefangenen Sardine.
    Man führt Claude und seinen Körper herein, der ihm nicht mehr zu gehören scheint. Zerstreut bleibt er kurz stehen.
    Dreimal stumme Einsamkeit in diesem dämmrigen Raum — mehr ist von ihrer Geschwisterschaft nicht übriggeblieben.
    Die Anwaltssekretärin, ein unerschütterlicher Fels der Neutralität, erscheint wieder.
    »Maître Dorlaneau lässt
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