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Pilgern auf Französisch

Pilgern auf Französisch

Titel: Pilgern auf Französisch
Autoren: Coline Serreau
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Dorlaneau verschanzt sich hinter der Mauer des Rechts und wartet, bis sich der Sturm gelegt hat.
    Bei Pierre hat sich das Gewitter verzogen, doch Claras Donnerwetter grollt ganz leise, was ein fürchterliches Crescendo erahnen lässt.
    Starr betrachtet Claude den kupfernen Kerzenständer auf dem Kaminsims über dem Kopf des Anwalts, der Alkohol ist ihm bis in die Fersen gesackt. Er scheint unter Wasser zu treiben, die Laute dringen nur mit Mühe zu ihm durch. Gut so. Es ist nämlich schlimm für ihn, die Stimme seiner Schwester zu hören, diese Stimme, die seine Ängste linderte und ihn umsorgte, nachdem der Vater die Familie verlassen hatte und der Verlust zu schwer geworden war — diese Stimme, die ihm später mütterlich streng ins Gewissen redete und verhindern wollte, dass er weiter abglitt...
    Clara reißt sich zusammen, zusammen, zusammen. Sie hat sich vorgenommen, auf keinen Fall einzugreifen, die Stimme nicht zu heben, auch ihre politischen Ansichten will sie für sich behalten, sie will nicht fluchen, jedweder Provokation widerstehen und jene Clara sein, die im Gymnasium bewundert wird — der Stolz des französischen Bildungswesens, die ausgeglichene, wundervolle Clara, die Meisterin in der Förderung von Schulversagern.
    Doch der Druck steigt, das Temperament fordert sein Recht, die wundervolle Clara pfeift auf das Bildungswesen, und die kleine Clara schreit ihren Zorn in einem Gezeter hinaus, in dem hinter jedem Wort ein anderes, ein unaussprechliches Wort steht.
    So viel Hass, so viel aufgestauter Groll haben ihr Herz verhärtet, so viele Erwartungen, so viele Hoffnungen und verdrängte Erinnerungen steigen wieder auf und schmerzen wie am ersten Tag.
    »Jetzt mal langsam! Mein ganzes Leben lang habe ich in öffentlichen, nichtkonfessionellen Schulen unterrichtet, ich habe gegen religiöse Vorurteile gekämpft, gegen den Klerus, gegen Fortschrittsfeindlichkeit, gegen überkommene Ansichten, gegen Wallfahrten und den ganzen Unsinn, den die Kirche sich ausgedacht hat, um den Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen, und Sie verlangen von mir, ich soll nach Santiago de Compostela latschen? Noch dazu mit meinen Brüdern? Haben Sie sie denn nicht gesehen, meine Brüder? Der eine ist ein heruntergekommener, arbeitsscheuer Alki, der andere ein Workaholic, süchtig nach Erfolg — zwei Wracks, die nicht wissen, wann ihre Frauen und Kinder Geburtstag haben! Und was, bitte schön, soll ich dem Schulamt erklären, wenn ich zwei Monate einfach mal weg bin? Dass ich pilgern gehe? Ausgerechnet jetzt, wo das Kopftuchverbot für Schulen erlassen worden ist? Und wer soll sich um meine Klassen kümmern? Wer soll mein Gehalt bezahlen? Und mein Mann und meine Kinder — was mache ich mit denen? Mein Mann ist arbeitslos, ich bin Alleinverdienerin — ein Gehalt für vier Personen! Aber dennoch: Ich muss mein Dach neu decken lassen, ich brauche ein neues Auto, ich muss die Raten für die Spülmaschine und die Encyclopaedia Universalis bezahlen, also lasse ich den Sommerurlaub mit der Familie sausen und unternehme Ihre gottverdammte Wallfahrt. Denn ich bin wirklich auf das Geld angewiesen, nicht wie mein Bruder Pierre, der im Geld schwimmt und für den diese Erbschaft ein Klacks ist. Er hat uns nie auch nur einen Cent geliehen, weder mir noch meinem Bruder Claude. Nie. Selbst wenn wir am Verhungern wären — er würde uns nicht mal den kleinen Finger reichen, trotz seines BMW, seiner beiden Mercedes, seiner Dreihundert-Quadratmeter-Wohnung im sechzehnten Arrondissement, trotz seiner Jacht und seiner vier Ferienwohnungen. Und nun muss ich mich zwei Monate lang mit diesen beiden Schwachköpfen herumschlagen. Vielen Dank auch, Maman!« Guy und Maître Dorlaneau halten den Mund. Schon beim kleinsten Wimpernschlag könnte der Sturm erneut losbrechen.
    Claude starrt nicht mehr auf den Kerzenständer. Die Stille hat ihn plötzlich geweckt. Lange sucht er nach Worten, dann fragt er in die dicke Luft hinein, die aufgeladen ist von Claras Wut:
    »Hm... Gibt es auch Kneipen in diesem Dingsda, in diesem Compost-was?«
    Der Maître erhebt sich.
    »Gut, ich überlasse Ihnen mein Büro, damit Sie sich besprechen können. Sie haben eine halbe Stunde Zeit, um zu einer Entscheidung zu gelangen.«
    »Und warum nur eine halbe Stunde?«, will Pierre wissen.
    Guy, höflich: »Weil ich anderen Interessenten mitteilen muss, ob es noch freie Plätze in der Gruppe gibt, die ich nach Santiago führe, und weil ich Betten in den Herbergen reservieren
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