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Pilgern auf Französisch

Pilgern auf Französisch

Titel: Pilgern auf Französisch
Autoren: Coline Serreau
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muss. Zu dieser Jahreszeit ist viel los auf dem Jakobsweg.«
    Clara: »Aha, dann sind wir also nicht mal allein?«
    Guy: »Nein, im Allgemeinen führe ich Gruppen mit acht Teilnehmern.«
    Pierre: »Ich schlafe nicht in Herbergen, ich gehe ins Hotel, das kann ich Ihnen gleich sagen.«
    Guy: »Bedauerlicherweise ist es nicht möglich, jedem ein Hotel zu bezahlen. Und nachdem Ihre Frau Mutter verfügt hat, dass Sie alle in denselben Unterkünften übernachten müssen, sind Sie leider verpflichtet... Aber gut, lassen wir Sie nun allein.«
    Guy und der Anwalt verlassen das Büro und schließen die Tür hinter sich.
    Gleich darauf erhebt sich lautes Geschrei, der Kampf zwischen den Geschwistern tobt.
    Sie schreien ihren Hass, ihren Frust, ihre lange Feindschaft, ihre zerstörten Erinnerungen hinaus, sie schreien den Tod der Mutter und die geheime Freude hinaus, sich wiedergetroffen zu haben, und sie schreien hinaus, dass sie sich dieser Freude verweigern.

    Später, als die Lungen erschöpft und die Worte erloschen waren wie heruntergebrannte Holzscheite, kehrten Guy und Maître Dorlaneau in den Raubtierkäfig zurück und setzten sich. Der Maître fragte in aller Höflichkeit, was sie nun zu tun gedächten.
    »Wir machen es«, versetzte Clara entschieden, und Pierre widersprach ihr nicht.
    Schnell sagte der Maître: »Ich freue mich über Ihre Entscheidung... Pierre, ich glaube, Ihre Geschwister dürfen sich bei Ihnen bedanken, denn Sie haben dieses Geld am wenigsten nötig... Damit machen Sie ihnen ein wunderschönes Geschenk.«
    Er hatte zu hastig gesprochen und die Kluft nicht ausgelotet, die die Geschwister trennte.
    Clara: »Ein Geschenk? Jetzt übertreiben Sie mal nicht! Er bekommt schließlich auch seinen Teil.«
    Pierre: »Entschuldigen Sie, aber ich schenke niemandem etwas.«
    Clara: »Sag ich doch!«
    Pierre: »Schnauze! Ich schenke niemandem etwas...«
    Clara: »Selber Schnauze!«
    Pierre: »... ich mache diese Reise, um das zu bekommen, was mir zusteht. Es gibt überhaupt keinen Grund, warum ich den alten Jungfern eines Wohltätigkeitsvereins mein Geld in den Rachen werfen soll.«
    Clara: »Da haben Sie Ihr Geschenk! Er ist ein Knicker und Knauser, ein Geizkragen, ein Gierschlund, was Sie wollen, aber ganz bestimmt kein Philanthrop.«
    Der Maître: »Nun, man merkt, dass Sie Lehrerin sind, Philologin...«
    Clara: »Ja, danke, ich verfüge über ein gewisses Vokabular.«
    Und da zieht Guy die Liste heraus. Eine für jeden. Ein Blatt, auf dem minutiös alle Gegenstände vermerkt sind, die jeder auf den Jakobsweg mitnehmen sollte — die Essenz, die er aus jahrelanger Erfahrung destilliert hat, alles Überflüssige ist gestrichen, Schmerzhaftes ausgelassen, es gibt nur noch Platz für das Allernotwendigste.
    »Das ist die Liste, nach der Sie Ihren Rucksack packen sollten.«
    Behutsam legt er jedem künftigen Pilger ein Blatt hin.
    Pierre schnappt es sich und überfliegt es mit Todesverachtung.
    Clara faltet es zusammen und steckt es in ihre Handtasche.
    Claude nimmt es mit den Fingerspitzen, wirft wohlwollend einen Blick darauf und legt es wieder auf den Schreibtisch.
    Guy: »Wir treffen uns am nächsten Montag zwischen sechzehn und siebzehn Uhr auf dem Bahnhof von Le Puy-en-Velay. Also, dann bis Montag!«

ÉDITH SITZT GEISTESABWESEND auf der Bettkante.
    Pierre ist stinksauer.
    »Ich gehe nicht, kommt gar nicht infrage.«
    Er pfeffert eine Packung Unterhosen auf den hochflorigen beigefarbenen Teppichboden.
    »Ich gehe nicht, ich brauche doch dieses Geld nicht!«
    Und er schleudert seinen brandneuen Rucksack quer durch den Raum.
    »Mit welchem Recht zwingt sie uns, das zu machen? Mit welchem Recht eigentlich?«
    Er hebt die Unterhosen wieder auf, legt sie aufs Bett.
    »Sie zwingt mich dazu — das treibt mich an der Wand hinauf!«
    »Zwingt dich deine Schwester?«
    »Nein, meine Schwester doch nicht — meine Mutter! Meine Mutter zwingt uns mit ihrem verfluchten Testament dazu...«
    »Aber sie ist doch tot.«
    »Selbst im Tod zwingt sie uns noch ihren Willen auf. Ich gehe nicht, ich gehe nicht! Die können mich mal mit ihrem ganzen Mist!«
    Er leert einen Rucksack voll mit Campingausrüstung auf dem Boden aus und tritt mit dem Fuß in dem Haufen herum.
    »Aber du hast gesagt, dass du gehst, dann musst du doch jetzt auch gehen, oder nicht?«
    »Ja, ja, ich muss, ich muss! Und dann muss ich auch noch in irgendwelchen Billigherbergen schlafen! Aber ich werde gehen, und ich werde in Billigherbergen schlafen! Lieber
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