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Pilgern auf Französisch

Pilgern auf Französisch

Titel: Pilgern auf Französisch
Autoren: Coline Serreau
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Ende der Straße, das ist Claras Haus.
    Weder in der Stadt noch auf dem Land, irgendwo dazwischen. In der Nähe ein Flughafen. Ohrstöpsel.
    Eindreiviertelstunde bis Paris. Viel Verkehr, wenn man irgendwohin fahren muss, tödliche Langeweile, wenn man Ablenkung und Unterhaltung sucht. Claras Mann Mingo ist arbeitslos; früher war er Buchhalter in einem kleinen Unternehmen, das der Konkurrenz aus der Dritten Welt zum Opfer fiel und pleiteging. Dieses Häuschen sparten sie sich vom Mund ab, Clara fand ganz in der Nähe eine Stelle an einem Technischen Gymnasium, und dann brach alles zusammen. Die Kinder gehen hier zur Schule, Clara darf ihre Stelle nicht verlieren, und Mingo findet keine Arbeit mehr. Die Falle ist zugeschnappt. Also ist Mingo Hausmann; ohne verbittert zu sein, übt er diese Tätigkeit aus wie einen richtigen Beruf. Ein großer, athletischer Typ, üppiges rotes Haar, ein Bäuchlein, weil er so gern isst — er kocht übrigens jeden Tag, und allen schmeckt’s.
    Clara und die Kinder hinterlassen im Haus ständig und überall Unordnung, Mingo findet sich damit ab. Der Esstisch dient als Ablage; zur Essenszeit meckert Mingo gutmütig, dann nehmen alle ihre Sachen, stapeln sie anderswo hin und decken gut gelaunt den Tisch, weil sie sich schon auf Mingos Köstlichkeiten freuen. Das Leben dieser Familie ist zwar durch die Arbeitslosigkeit aus der Bahn geraten, doch im Grunde kommen alle gut zurecht, und eine brandende Woge der Liebe tränkt die Luft, die sie atmen.
    Pierre und Lucie, beide rothaarig wie ihr Vater, stecken die Nase ständig in Bücher, wie ihre Mutter, und machen ihren Eltern keine größeren Sorgen.
    Heute ist Clara total gestresst: Morgen verreist sie für länger als zwei Monate, sie hat noch nichts gepackt, hatte noch keine Zeit, die Hausarbeit ihrer Tochter durchzusehen; die Liste, die ihr der Coach gegeben hat, hat sie verlegt, und sie weiß nicht, wo ihr Rucksack ist. Völlig fertig rennt sie kreuz und quer durchs Wohnzimmer.
    »Mingo, ich finde meinen Rucksack nicht mehr.«
    Mingo, in einer Hand einen Topf mit Pilzen in Knoblauchsoße, auf der Schulter ein Küchentuch, hebt einen Stapel Decken und Bücher hoch.
    »Er liegt hier auf dem Sofa, ich habe ihn schon gepackt. Nach der Liste des Coach. Alles erledigt. Fehlt nur noch die Marseiller Seife, ich gehe gleich auf den Markt und besorge dir welche. Pierrot, deckst du schnell den Tisch, solange das Essen noch warm ist? ... Lucie, nimm deine Bücher da weg und bring bitte das Brot mit!«
    Mingo deutet auf einen Bücherstapel neben dem Rucksack und fragt Clara: »Willst du die wirklich alle mitnehmen?«
    »Nein... eins vielleicht.«
    »Alles in Ordnung, mein Engel.«
    »Na ja...«

DER REGIONALZUG FÄHRT in den Bahnhof von Le Puy-en-Velay ein und spuckt die Passagiere aus, darunter einige Pilger und Guy.
    Die Pilger, noch voller Träume, mit weißen Beinen und adretten Rucksäcken — einige haben sich die Jakobsmuschel umgehängt, andere tragen einen Wanderstock — , mischen sich unter die Menge, die die Gleise auf einer hölzernen Fußgängerbrücke überquert und dem Ausgang zustrebt. In Le Puy-en-Velay gibt es keine Unterführung; der Provinzbahnhof, im schlichten Stil des ausgehenden vorletzten Jahrhunderts erbaut, besitzt den Charme ländlicher Einraumschulen, Rathäuser und Postämter, die in unserem Land noch aus jener Zeit erhalten sind.
    Guy sieht natürlich aus wie ein Pilger, aber wie ein Profipilger. Er lebt seinen Traum mehr, als dass er ihn träumt.
    Clara ist mit demselben Zug gekommen. Während der ganzen Fahrt hat sie Listen geschrieben: was sie vergessen hat, was Mingo und die Kinder während ihrer Abwesenheit erledigen müssen, Probleme in der Schule, die sie telefonisch von unterwegs irgendwie lösen muss, Listen über Listen, nur unterbrochen von so heftig aufwallender Wut, dass sie die anderen Passagiere am liebsten alle zusammengeschlagen hätte. Sieben Stunden Fahrt — das ist wirklich unglaublich, selbst in der Provinz! Sieben Stunden, bis sie in diesem Kaff und bei ihren dämlichen Brüdern ist! Und beim Gedanken an die kommenden zehn Wochen, in denen sie die beiden ertragen muss, wurde ihre Wut praktisch unkontrollierbar. Um nicht zu explodieren, musste Clara aufstehen, ein Fenster öffnen und in das grüne Land hinaussehen, das von Strommast zu Strommast an ihr vorbeizog.
    In der Bahnhofshalle setzt Guy seinen Rucksack ab und entrollt ein grellbuntes Transparent, das den Sammelpunkt anzeigen soll; darauf
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