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Pilgern auf Französisch

Pilgern auf Französisch

Titel: Pilgern auf Französisch
Autoren: Coline Serreau
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bitten.«

    Maître Dorlaneau, ein Freund der Familie, kennt Pierre, Clara und Claude seit Jahrzehnten.
    Ihre ganze Geschichte ist niedergelegt in Form von Verträgen und Klauseln, manchmal suspensiv, oft offensiv, in Form von Paragrafen, Poststempeln, die maßgebliche Daten anzeigen, und anderen Schriftstücken, die in den lederbezogenen Schubfächern der riesigen Aktenschränke lagern.
    »Die Aktiva Ihrer Frau Mutter belaufen sich auf eine Million Euro plus ihrer Villa an der Côte d’Azur, die auf siebenhunderttausend Euro geschätzt wird. Sie hat ihr Vermögen noch zu Lebzeiten einer Wohltätigkeitsorganisation vermacht — Sie erben demnach nichts.«
    Maître Dorlaneau holt rasch Luft, bevor die Sprachlosigkeit seiner drei Klienten in lautes Geschrei Umschlägen kann, und fährt fort.
    »Es gibt jedoch eine aufschiebende Klausel in diesem Vermächtnis: Im Todesfall fällt Ihnen das Vermögen zu, sofern Sie alle drei nachweisen können, dass Sie innerhalb von fünf Monaten nach dem Tod Ihrer Mutter auf dem Jakobsweg von Le Puy-en-Velay nach Santiago de Compostela gepilgert sind, dabei die ganze Zeit zusammengeblieben sind und in denselben Unterkünften übernachtet haben.«
    Wieder atmet er durch und spricht weiter — dennoch konnte ein überraschter Schrei des Entsetzens den Mündern von Pierre und Clara entweichen, ein »Was?!« voller Hass; es klang wie bei einer Ente, der man den Hals umdreht.
    Der Maître beeilt sich, es besteht größte Explosionsgefahr.
    »Für den Fall, dass Sie sich entscheiden sollten, diese Wanderung zu unternehmen, werde ich Ihnen jetzt Ihren Coach vorstellen, der von unserer Kanzlei und von der besagten gemeinnützigen Organisation ausgewählt wurde.«
    Er steht auf und verschwindet hinter einer Tür.
    Die Gewalt des Schweigens, das darauf folgt, erreicht ein unerträgliches Maß.
    Claude hat sicherlich viel Alkohol hinuntergekippt, um das Ganze durchzuhalten, schwerfällig wiegt er den Kopf hin und her.
    Clara und Pierre halten mit aller Kraft den Deckel ihres jeweiligen inneren Drucktopfs nieder, aber der Dampf steigt nach oben und will herausschießen.
    Maître Dorlaneau kommt mit einem freundlichen Mann zurück.
    »Darf ich Ihnen Guy vorstellen?«
    »Guten Tag, meine Herrschaften, ich wäre Ihr Coach, wenn Sie sich zu dieser Reise entschließen sollten.«
    Guy — ein schöner Mann mit sanften Augen, grau meliertem Kraushaar und schokoladenbrauner Haut — drückt sich mit ausgesuchter Höflichkeit aus.
    Claude begrüßt ihn mit seligem Lächeln und glasigen Augen.
    Beim Anblick des dunkelhäutigen Mannes, der ihr »Führer« sein soll, explodiert Pierres Drucktopf, keine Macht der Welt könnte dies noch verhindern.
    »Also, erstens bin ich nicht gläubig, Pilgerwanderungen interessieren mich einen feuchten Dreck, und wenn es nach wie vor ein paar bigotte Mütterchen gibt, denen es Spaß macht, wie im Mittelalter zu leben, dann können sie das meinetwegen tun, mich aber sollen sie damit in Ruhe lassen. Zweitens habe ich gesundheitliche Probleme — Magengeschwür, Bluthochdruck, hoher Cholesterinspiegel, es kommt also überhaupt nicht infrage, dass ich eine Wanderung mache, und sei es auch nur eine Viertelstunde lang, der Handkarren, das Fuhrwerk, die Droschke, die Postkutsche, die Eisenbahn, das Auto, das Flugzeug und die Außenbordmotoren wurden doch nicht erfunden, damit wir wie die letzten Trottel zu Fuß mit dem Rucksack auf dem Buckel am Straßenrand entlangmarschieren. Drittens: Im Gegensatz zu meinem Bruder und zu meiner Schwester leite ich ein bedeutendes Unternehmen und schufte von morgens bis abends, ich habe Verpflichtungen, Bilanzen, Angestellte, Häuser, Steuern, Korrespondenz, Verantwortung, ein gesellschaftliches Leben, Sozialabgaben, Geschäftsreisen, Dringlichkeiten und eine Menge Leute, die sich auf mich verlassen. Ihre Pilgerwanderung können Sie sich also sonst wo hinschieben. Und bei aller Liebe zu meiner Mutter — ich nehme in meinem Alter doch keine Rücksicht auf die Hirngespinste einer alten Frau, die völlig von der Rolle war, finden Sie bitte eine Lösung, damit wir das Geld bekommen, das uns zusteht, und schicken Sie Ihren charmanten Coach dorthin zurück, wo er herkommt: auf die sonnige Insel, die er am besten niemals verlassen hätte.«
    Guy lächelt weiterhin verbindlich: Beleidigungen an sich ablaufen lassen wie Wasser auf einer Regenhaut, sich nicht beirren lassen, ruhig bleiben, Beschimpfungen sprechen gegen den, der sie äußert...
    Maître
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