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Heimat

Heimat

Titel: Heimat
Autoren: Verena Schmitt-Roschmann
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Einführung
    Am 19. Juni 2009 war es so weit: Die Heimat hatte die »heimatlose Generation« eingeholt. 1

    Das sind die Leute, die auf dem Weg nach Italien unvermittelt ins Territorium des Bayerischen Rundfunks geraten und dort bei Sendungen wie »Heimatspiegel« gequält aufheulen. Es sind Leute, die in Altbauwohnungen im Prenzlauer Berg oder im Frankfurter Nordend sich mit leichtem Schaudern ihrer Jugend zwischen Resopal und Prilblümchen in, sagen wir, Fritzlar erinnern - insgeheim bedauert übrigens von ihren ehemaligen Klassenkameraden, die nun in Fritzlar ein Eigenheim mit Carport besitzen und sich beim besten Willen nicht vorstellen können, wie man im Prenzlauer Berg jemals einen Parkplatz finden soll, geschweige denn Kinder großziehen.

    Es ist eine Generation, die sich in Paris oder London lieber wegduckte, wenn die schwäbelnden Touristen mit den Spiegelreflexkameras anrückten. Die wegen der deutschen Geschichte gern vor Scham im Boden versunken wäre, wenn sie auf der Upper East Side in New York Auschwitz-Überlebende traf. Die sich glücklich schätzte, dass keiner ernsthaft wagte, sie auf ein Vaterland zu verpflichten, und die dann 2006 befremdet in einem schwarz-rot-goldenen Fahnenmeer inmitten glückseliger Fußballmassen unter dem Brandenburger Tor aufwachte.

    »In meiner Jugend war Heimat ein Schreckenswort«, bekannte an diesem 19. Juni 2009 die Grünen-Politikerin Renate Künast. »Es hat sich viel verändert in unserem Land seit jener Zeit.«

    Ausgerechnet ins riesige Atrium des Paul-Löbe-Hauses neben dem Reichstag, in die große Halle des Volkes mit ihren staubigen Betonwänden und ihrem pompösen Hall, hatten die Grünen zum Thema Heimat geladen. Um es nicht zu heimelig werden zu lassen, fügten sie außerdem dem Konferenz-Titel den Zusatz »Wir suchen noch« bei. Aber es war klar: Die letzte Bastion ist geschleift, die deutsche
Linke geläutert, selbst sie, aus ihrer multikulturellen Cosmopolis endlich zurück im Reich der deutschen Mythen: Heimat. Dort warten die deutschen Konservativen schon seit Jahren und begrüßen die reumütigen Neuankömmlinge nun mit einem genüsslichen: Siehste.

    Ich sage das ein bisschen überspitzt, aber wirklich nur ein bisschen. Wenige Themen haben die Deutschen in den vergangenen 200 Jahren so nachhaltig, so wiederkehrend und dauerhaft beschäftigt, wie immer wieder: Heimat. Es treibt sie um, das beständige Sehnen nach Orten der Kindheit, Orten der Geborgenheit, der glücklichen Erinnerung, der einfachen, klaren Verhältnisse. Nach Orten der Ruhe inmitten der Beschleunigung, am besten in heiler Natur, zwischen hohen Bergen, tiefen Wäldern, klaren Seen. Nach Orten, an denen nichts fremd ist oder bedrohlich, nichts widersprüchlich, gebrochen oder zerstört. Dieses tiefe Bedürfnis nach Heimat ist etwas Urdeutsches.

    Kaum ein Begriff ist so befrachtet, ideologisiert, missbraucht, so verkitscht, verhöhnt und verpönt worden, wobei nun schon mehrere Generationen von Heimat-Autoren verkünden, das mit dem »verpönt«, das sei nun vorbei, Heimat sei nun wieder hoffähig und von besonderer Dringlichkeit. »Das Wort ‚Heimat’ hat einen neuen Glanz bekommen«, meinte zum Beispiel Hans Georg Wehling schon 1984. »Die Sehnsucht nach einem Ort, in dessen Überschaubarkeit und Unverwechselbarkeit man sich wiederfinden kann, nach Geborgenheit, menschlicher Nähe und Vertrautheit, stellt wohl eine Antwort dar auf die massiven Gefährdungen unserer Existenz, die Bedrohungen unserer Umwelt und die Infragestellungen unserer Identität heute.« 2 Mehr als 20 Jahre später konnte es Klaus Hofmeister kaum treffender formulieren: »Noch vor wenigen Jahren hätte man ein Buch zum Thema Heimat mit spitzen Fingern angefasst«, schrieb er 2006. »Heute ist Heimat im Kommen.« Es gebe einen wachsenden »Heimatbedarf«, meint Hofmeister: »Was fehlt, ist Nähe, Überschaubarkeit.« 3

    Ich will das nicht bestreiten. Heimat hat auch jetzt etwas drängend Aktuelles. Der ersehnte emotionale Ruhezustand ist bedroht - abstrakt von einer für den Einzelnen kaum greifbaren Globalisierung und konkret von einer zunehmenden Rastlosigkeit, einem Zerfall von Institutionen wie Kirche, Parteien, Gewerkschaften, einem interkontinentalen
Nomadentum. Die jüngste Drehung ist die Perversion der Globalisierung: eine unergründliche Krise, die sich weitgehend im virtuellen Raum des elektronischen Handels und der unbegreiflichen Milliardensummen abspielt. Da beruhigt die Zuflucht im Realen. Noch
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