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Gregor und der Spiegel der Wahrheit

Gregor und der Spiegel der Wahrheit

Titel: Gregor und der Spiegel der Wahrheit
Autoren: S Collins
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1. Kapitel
    G regor starrte einen Augenblick in den Badezimmerspiegel und holte tief Luft. Dann öffnete er langsam die Schriftrolle und hielt sie mit der handbeschriebenen Seite vor den Spiegel. Im Spiegelbild las er die erste Strophe eines Gedichts mit dem Titel »Die Prophezeiung des Bluts«.
    Wie immer, wenn er die Zeilen las, wurde ihm flau.
    Es klopfte an der Tür. »Boots muss mal!«, rief seine achtjährige Schwester Lizzie.
    Gregor ließ das obere Ende der Schriftrolle los, und sie schnappte zusammen. Schnell steckte er sie wieder in die hintere Tasche seiner Jeans und zog das Sweatshirt darüber, damit man sie nicht sah. Er hatte noch niemandem von der neuen Prophezeiung erzählt, und solange es sich vermeiden ließ, hatte er das auch nicht vor.
    Vor ein paar Monaten, kurz vor Weihnachten, war er ausdem Unterland zurückgekehrt, aus der dunklen, von Kriegen geschüttelten Welt viele Meilen unterhalb von New York. Dort lebten riesige sprechende Ratten, Fledermäuse, Spinnen, Kakerlaken und zahlreiche andere gigantische Tiere. Menschen gab es dort auch – blasse, violettäugige Wesen, Nachfahren jener, die im siebzehnten Jahrhundert unter die Erde gezogen waren und die steinerne Stadt Regalia erbaut hatten. Die Bewohner Regalias debattierten jetzt wahrscheinlich immer noch darüber, ob Gregor ein Verräter oder ein Held war. Auf seiner letzten Reise hatte er sich geweigert, ein weißes Rattenbaby zu töten, das man den Fluch nannte. In den Augen vieler Unterländer war das unverzeihlich, denn sie glaubten, diese Ratte würde eines Tages ihren Untergang bedeuten.
    Die derzeitige Königin von Regalia, Nerissa, war ein zerbrechliches junges Mädchen mit beängstigenden Zukunftsvisionen. Sie hatte Gregor bei seiner Abreise die Schriftrolle in die Jackentasche gesteckt. Damals dachte er, es handele sich um die »Prophezeiung des Fluchs«, bei deren Erfüllung er den Unterländern gerade geholfen hatte. Stattdessen war es dieses neue, erschreckende Gedicht.
    »Damit du bisweilen darüber reflektieren kannst«, hatte Nerissa gesagt. Wie sich herausstellte, war das wörtlich gemeint – die Prophezeiung des Bluts war in Spiegelschrift geschrieben. Ohne einen Spiegel konnte Gregor sie nicht lesen.
    »Gregor, beeil dich!«, rief Lizzie und rüttelte an der Badezimmertür.
    Er machte die Tür auf, und da stand Lizzie mit der zweijährigen Schwester Boots. Sie waren beide in Mäntel und Mützen eingemummelt, obwohl sie den ganzen Tag noch nicht draußen gewesen waren.
    »Ich muss Pipi!«, schrie Boots, zog die Hose ganz herunter und trippelte dann zur Toilette.
    »Du musst erst zum Klo gehen und dann die Hose runterziehen«, erklärte Lizzie ihr zum hundertsten Mal.
    Boots hangelte sich auf die Toilette. »Ich jetzt großes Mädchen. Ich Pipi aufs Klo.«
    »Super«, sagte Gregor und zeigte ihr den erhobenen Daumen. Boots strahlte.
    »Dad ist in der Küche und backt Kekse. Da ist der Ofen an.« Lizzie rieb sich die Hände, damit sie warm wurden.
    In der Wohnung war es eiskalt. Seit Wochen herrschten in New York rekordverdächtige Minustemperaturen, und der Heizkessel, der die alten Rohre mit Wasserdampf versorgte, war hoffnungslos überfordert. Die Hausbewohner hatten schon mehrfach bei der Stadt angerufen, aber ohne Erfolg.
    »Los, Boots. Gleich gibt’s Kekse«, sagte Gregor.
    Sie riss gut einen Meter Klopapier von der Rolle und putzte sich leidlich ab. Es hatte keinen Sinn, ihr Hilfe anzubieten. »Nein, ich selber machen«, war die Antwort.
    Gregor achtete darauf, dass sie sich die Hände wusch und abtrocknete, um dann ihre rissige Haut einzucremen. Er nahm die Flasche, drehte sie auf den Kopf und wollte gerade drücken, als Lizzie ihn am Ärmel zupfte.
    »Das ist Shampoo!«, sagte sie panisch. In letzter Zeit geriet sie bei jeder Kleinigkeit in Panik.
    »Stimmt«, sagte Gregor und nahm die andere Flasche.
    »Haben wir Gelee, Gre-go?«, fragte Boots hoffnungsvoll, während er die Creme auf ihren Handrücken verrieb.
    Gregor lächelte darüber, wie sie seinen Namen aussprach. Etwa ein Jahr lang hatte sie Ge-go gesagt, aber neuerdings fügte sie ein r hinzu.
    »Traubengelee«, sagte Gregor. »Hab ich extra für dich gekauft. Hast du Hunger?«
    »Jaa!«, sagte Boots, und er hob sie mit Schwung auf seine Hüfte.
    Als er mit Boots in die Küche kam, hüllte ihn eine warme Wolke ein. Sein Vater holte gerade ein Blech mit Keksen aus dem Ofen. Gregor war froh, dass er wieder auf den Beinen war, und sei es nur, um so etwas
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