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Philosophische Anthropologie

Philosophische Anthropologie

Titel: Philosophische Anthropologie
Autoren: Gerald Hartung
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Anerkennung des sich wandelnden Menschseins in der Zeit, dessen höchste Form der Anerkennung im Moment der Gnade bestätigt wird.
    Mit dem paulinischen Paradigma ist für das anthropologische Denken ein radikal neuer Gedanke gefasst. Gegenüber den antiken Anthropologien, die trotz aller Differenzen von einem gleichbleibenden Wesen des Menschen ausgehen, wird mit Paulus der ewige Ideenhimmel wie auch die von Ewigkeit her wirkende Natur aus den Angeln gehoben. Für Paulus ist der Mensch ein geschichtliches Wesen, das sich im Lauf der Geschichte wandelt und sich in diesem Wandel auf die Überwindung des naturhaften Menschen (Adam) vorbereitet. Das »Leben in Christus« (Römerbrief 6.3) ist kein Maß von dieser Welt, aber gerade deshalb in seiner Maßlosigkeit der kritische Impuls gegen jegliche Anmaßung antiker Kosmologien und Anthropologien.
    [24] Im antiken Kulturkreis entwickelt sich erst mit Augustinus (354–430) und dann mit der Rezeption der augustinischen Schriften eine christlich fundierte Anthropologie. Bei Augustinus geht es, nur vordergründig im Sinne der stoischen Lehre, um »Lebensgewissheit«. (Augustinus, De Trinitate, X.10.14) Darüber hinaus formuliert er, prominent in seinen
Confessiones
, den Zweifel an einem Leben, das nur naturhaft und in den Dimensionen des alltäglichen Lebens zerfasert ist. Seine Zweifelsfrage richtet er an seinen Gott: »Wer bin ich, mein Gott? Welche Natur bin ich? Vielfältig und vielschichtig ist das Leben und durchschlagend unermeßlich.« (Augustinus, Confessiones, X.17.26) »Unermesslichkeit des Lebens« meint für Augustinus, dass der Mensch außer sich keinen Halt und kein Maß findet. Lebensgewissheit kann es nur in der Perspektive auf die Quelle allen Lebens, den Schöpfergott, geben.
    Die Einsicht, dass der Weg in die Natur und Menschenwelt und durch diese hindurch nicht zur Gewissheit, zur Beruhigung des Zweifels und damit zur Wahrheit führt, lässt Augustinus ein antisokratisches Programm aufstellen. Am prägnantesten wird es in der Abhandlung
De vera religione
formuliert: »Gehe nicht nach außen, in dich selbst kehre ein, im Inneren des Menschen nämlich wohnt die Wahrheit, und wenn du deine wandelbare Natur erkennen willst, dann gehe über dich selbst hinaus (transcende et te ipsum).« (Augustinus, De vera religione, I.39) Anders gesagt: Der Mensch muss sich selbst überschreiten, um sein wahrhaftes Wesen – heute würden wir sagen: seine Identität – zu erkennen. Heilsgeschichtlich bedeutet das, dass der Mensch in der Analyse seiner wandelbaren Natur die Wirkkräfte (das Begehren) und die Symptome des Sündenfalls (die unruhige Seele) freilegt und sich als Therapeutikum die Umkehr des Begehrens und die Abkehr vom Kosmos verschreibt, um eine Gesundung und Beruhigung der Seele in der Suche nach seinem Schöpfer herbeizuführen.
    Augustinus’ Leistung für die christliche Anthropologie ist [25] kaum zu überschätzen. Indem er den Menschen aus dem antiken Kosmos herauslöst, zeigt er einen Weg der Weltüberwindung. Der Preis hierfür ist hoch, denn die ganze Weltproblematik (Sünde und Erlösung) konzentriert sich in einem Punkt. Der Mensch ist das zutiefst problematische Wesen in einem insgesamt unproblematischen, weil nicht heilsrelevanten, naturhaften Weltganzen. Um es auf eine Formel zu bringen, ist der Mensch das Problem, für das es im Kosmos keine Lösung gibt. Der Augustinismus des Mittelalters, von Bonaventura bis in die Zeiten Luthers, hat aus dieser Überlegung die Rechtfertigung der Kirche als Heilsinstitution, als Mittlerin zwischen dem Leben in der Zeit und einem ewigen Leben abgeleitet.
    Neben dieser Hauptströmung christlicher Anthropologie entwickelt sich seit dem 13. Jahrhundert die Denkform eines christlichen Aristotelismus, der die Debatten zur Frage »Was ist der Mensch?« nachhaltig prägen sollte. Der christliche Aristotelismus geht von einer wechselseitigen Angemessenheit von Natur und Seele/Geist, von Wissen und Glauben, Natur und Gnade aus. Das zeigt sich vor allem im Werk des Thomas von Aquin (1224/25–1274). Sein Grundgedanke der wechselseitigen Angemessenheit von Sache und Verstand (adaequatio rei et intellectus) eröffnet einen Mittelweg zwischen den Positionen der antik-paganen und der christlichen Anthropologie.
    Dieser Grundgedanke lässt sich folgendermaßen formulieren: Zwar gibt es, wie Thomas von Aquin unterstreicht, für das Problem des Menschen als eines sündigen Wesens im Kosmos keine Lösung, aber es gibt
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