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Philosophische Anthropologie

Philosophische Anthropologie

Titel: Philosophische Anthropologie
Autoren: Gerald Hartung
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dennoch die Möglichkeit, eine ganze Reihe von Zwischenlösungen zu konzipieren. Die Erkenntnis des Menschen als eines Naturwesens, in dem die Kräfte der Natur (Triebe) und der Seele (Gottesliebe) miteinander ringen, ist nicht gänzlich unvernünftig. Aufgrund der Angemessenheitsbestimmung gibt es eine ontologische Gewähr dafür, dass Selbsterkenntnis auf dem Umweg der Wissenschaften möglich ist. Nichts geschieht in der Natur [26] vergeblich, wie Aristoteles gesagt hat. Also auch nicht das menschliche Nachdenken über die natürliche Ordnung der Dinge. Der Kanon der aristotelischen Wissenschaften – von der Physik über die Seelenlehre bis zur Metaphysik – wird so von Thomas von Aquin und seinen Nachfolgern gerechtfertigt. Obwohl es nicht heilsrelevant ist, ist es doch auch nicht gänzlich unvernünftig, über das Wesen des Menschen am Leitfaden seiner Naturhaftigkeit nachzudenken. Die göttliche Gnade wird nach Auffassung dieses großen Vertreters der Scholastik die naturhaften Verhältnisse aufheben, sie allerdings nicht in ein radikal Anderes transformieren. Die göttliche Gnade vervollkommnet die Natur, auch die menschliche Natur (»gratia naturam non tollit sed perficit«). Mit dieser Überlegung rechtfertigt Thomas von Aquin das anthropologische Denken unter der Vormundschaft der Theologie.
Der Mensch im Kosmos II (Renaissance)
    Wenn wir von der Zeit der Renaissance im Sinne einer Wiederentdeckung der antiken Perspektive sprechen, dann muss dies für das anthropologische Denken präzisiert werden. Denn einerseits hat die Aristoteles-Rezeption des Mittelalters bereits zu einer Aufwertung der Naturhaftigkeit des Menschen geführt. Andererseits jedoch war diese Naturerkenntnis auf das Allgemeine beschränkt und nicht dem individuellen Moment des Erlebens zugewandt. Allmählich jedoch artikuliert sich das Interesse am Individuellen und beansprucht die antike Kultur im Sinne einer Geistestradition, die auf der Wertschätzung des Individuellen basiert. Beispielhaft für diese Entwicklung ist Francesco Petrarca (1304–1374), der aus seiner Einsamkeit heraus seinen Weg zu sich selbst darstellt (
De vita solitaria
). Zwar ist das Vorbild hier der Augustinus der
Confessiones
, aber das Selbstgespräch, das Petrarca vorführt, setzt sich aus vielen [27] Momenten des Erlebens seines Selbst zusammen und mündet in einen Prozess der Selbsterfahrung. Bei Petrarca verliert der Weg nicht, wie bei Augustinus, gegenüber dem Ziel an Bedeutung. Wohl geht es auch ihm um Gewissheit im Glauben, aber im Selbstgespräch der Seele entsteht eine Selbstgewissheit und Bejahung des individuellen Lebens, wie sie zuvor nicht bekannt war. Die neue Selbstbejahung des Menschen drückt sich in der Wahl einer bestimmten Lebensführung aus. Der Kosmos wird nicht grundsätzlich als wertlos abgelehnt, weil er der Ort der Bewährung und Selbsterkenntnis ist. Anthropologisches Denken artikuliert sich in dieser Weise als Suche nach einer angemessenen Lebensführung.
    In der Zeit der Renaissance lassen sich zwei Seiten der Weltbejahung typologisch auseinanderhalten. Das ist einerseits der Bereich des religiösen Selbsterlebens und andererseits derjenige der natürlichen Lebenserfahrung. Es gibt eine ganze Reihe von Vorboten dieser Weltsicht im 12. und 13. Jahrhundert, als die Auseinandersetzung mit der aristotelischen Lehre eine produktive Spannung zwischen Glaubensgewissheit und Wissenschaft erzeugte und die neu gegründeten Universitäten ein Forum für diese Debatten waren. Im Kern ging es, zumindest was den Zusammenhang anthropologischen Denkens betrifft, um die Frage nach der Unbegrenztheit beziehungsweise Unendlichkeit des Kosmos. Was in der Diskussion über die aristotelische Physik zuerst ein Problem der Textauslegung und Suche nach Vernunftgründen war, wird in der Epoche des Nikolaus Kopernikus (1473–1543) zum Problem der Beobachtung und Deutung von Naturphänomenen. Die kopernikanische Wende hat diese zweifache Reaktion provoziert. Sie manifestiert sich in der bejahenden Hinwendung zum Kosmos, die im religiösen Selbsterlebnis einerseits und in der natürlichen Selbsterfahrung andererseits vermittelt wird.
    Die Weltbejahung im Medium religiösen Selbsterlebens ist von Petrarca entworfen und von Nicolaus Cusanus [28] (1401–1464) entwickelt worden. Nach Cusanus’ Auffassung liegt der ganze Kosmos eingefaltet (complicative) im Menschen. Dieser wählt aus der Fülle der Möglichkeiten, die ihm sein Leben bietet. Der Schöpfergott hat
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