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Philosophische Anthropologie

Philosophische Anthropologie

Titel: Philosophische Anthropologie
Autoren: Gerald Hartung
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das Prinzip der Freiheit im Menschen verankert. Dieser Vorleistung korreliert eine Gegenleistung: »Du erwartest«, so heißt es in Cusanus’ Schrift
De visione Dei
, »dass ich die Wahl treffe, ich selbst zu sein« (ut ego eligam mei ipsius esse). Diese Wahl meiner selbst ist ein Ausfalten dessen, was der Schöpfergott der Möglichkeit nach in mich eingefaltet hat. Mit der Wahl meines Selbst und der Ausfaltung meiner Möglichkeiten entsteht eine neue Welt. Der Mensch, wie Cusanus ihn zeichnet, erlebt sich als Formgeber und das heißt als Schöpfer seines eigenen Kosmos.
    Für die Einheit des menschlichen Kosmos in der Summe seiner individuellen Ausfaltungen reserviert Cusanus den Begriff der Humanitas. Im schöpferischen Akt und in der Perspektive auf die Einheit der Menschheit erlebt sich der Mensch auf menschliche Weise als »Gott«. Alles, was Menschen erleben, steht notwendig in menschlicher Perspektive. So kommt es auch bei Cusanus darauf an, den Kosmos zu bejahen, weil er der Ort ist, an den menschliche Selbsterkenntnis gebunden ist. Dennoch ist dieses Ja zum Kosmos nicht vorbehaltlos, sondern an eine letzte Bestätigung gebunden. Was in der Wirklichkeit scheinbar auseinanderfällt, denn weder der Kosmos noch das je einzelne Leben wird als Einheit erlebt, wird bei Cusanus in letzter Instanz durch die Christologie zusammengehalten. Christus stellt nicht den einzelnen Menschen dar, sondern die Idee der Menschheit. In ihm ist »complicative« die ganze Menschheit eingefasst. In der Hinwendung auf den Glauben in Christus erscheint die kosmische Vielheit in einer »visio unitatis« (Cusanus 1962/1, 13). Zwar besteht für uns Menschen eine unendliche Distanz zwischen dem Vorbild in Christus und unseren eigenen Bemühungen, aber durch die Mittlerposition des menschgewordenen Gottes ist die unendliche [29] Weise der Annäherung grundsätzlich gerechtfertigt. Nikolaus Cusanus führt das paulinische Paradigma in das anthropologische Denken der Renaissance ein. Mit seiner Einsicht, dass die Christologie das Zentrum des anthropologischen Denkens bildet, wird er zu einem entscheidenden Vermittler zwischen den Epochen.
    Entscheidend ist für das 15. und beginnende 16. Jahrhundert, dass die Pointe der Hinwendung zum Kosmos in der Herausstellung des Menschen als schöpferischer Kraft liegt. Die Renaissance feiert den Menschen, wie es bei Marsilio Ficino (1433–1499) heißt, als »Deus in terris«. Damit ist gemeint, dass der Mensch sich im Einwirken auf den Kosmos vergöttlicht. Die Grenze einer umfassenden Selbstvergöttlichung liegt in der Naturhaftigkeit menschlichen Lebens, die nun zunehmend als Schattenseite aufgefasst wird. Ficino greift auf die platonische Dualität von Körper und Seele zurück und beschreibt die materielle Seite menschlichen Lebens als seine schicksalhafte Abhängigkeit, sein Fatum. Die Realisierung der Humanitas als der Befähigung des Menschen, sich auf menschliche Weise als Gott zu betrachten, wird in dem Maße möglich, wie die Befreiung aus einem naturhaften Schicksalszusammenhang gelingt. Das Menschliche muss sich gegen die Naturhaftigkeit des Lebens behaupten.
    Hier tritt ein zentrales Motiv der Renaissance in den Vordergrund, das ihr trotz aller Anleihen bei der platonisch-augustinischen Tradition anthropologischen Denkens eine besondere Stellung verleiht. Gemeint ist der einzigartige Wert des Menschen gegenüber Natur und kosmischen Mächten. Dieser Wertgesichtspunkt gründet im Schöpfertum des Menschen. Vor allem für Giovanni Pico della Mirandola (1463–1494) ist der Mensch dadurch vor allen anderen Naturgeschöpfen ausgezeichnet, dass er »Bildner seines Seins« (sui ipsius plastes et fictor) ist. Das ist ein Grundgedanke seiner Abhandlung
De hominis dignitate
(1486) und die Summe anthropologischen Denkens in dieser Epoche. Auch von anderen Gelehrten wird das Schicksal des Menschen in [30] Abhängigkeit vom Weltverlauf formuliert und die Bedeutung des schöpferischen Tätigseins unterstrichen. Ob der politisch handelnde (Machiavelli) oder der künstlerisch schaffende (Leonardo) oder der wissenschaftlich erfinderische Mensch (Cardano) – sie alle versuchen sich im Erlebnis ihrer Individualität gegen die fremden Naturgewalten zu behaupten.
    Auf der anderen Seite gibt es einen zweiten Bereich anthropologischen Denkens der Renaissance, der eingangs unter dem Stichwort »natürliche Lebenserfahrung« eingeführt wurde. Hier wird der Mensch als Teil einer natürlichen Ordnung der Dinge
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