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Philosophische Anthropologie

Philosophische Anthropologie

Titel: Philosophische Anthropologie
Autoren: Gerald Hartung
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seiner Gefährdung artikuliert. Die Mythen und Riten der Frühzeit, die Schriftkultur der historischen Zeit wie auch die Wissenschaften der neueren Zeit – sie alle liefern Indizien dafür, dass Selbst- und Welterkenntnis immer schon ein riskantes Vorhaben war, ist und auch in Zukunft sein wird.
    Bei beiden Denkrichtungen, die auf eine Metaphysik des Menschen oder auf eine (Wissenschafts-)Theorie vom Menschen abzielen, geht es gleichwohl um eine einheitliche Idee des Menschen angesichts seiner natur- und kulturgeschichtlichen Veränderlichkeit. Ihr Ansatzpunkt sind die Denkbewegungen, in denen sich die Kulturmenschheit seit Anbeginn ihrer Position im Kontrast zu ihren Umwelten gewiss zu werden versuchte. Anthropologie in diesem Sinn meint eine Bestandsaufnahme anthropologischen Philosophierens, von den ersten Dokumenten der Kulturmenschheit bis zu ihren neuesten Errungenschaften in den Wissenschaften. Die Tatsache, dass die philosophische Anthropologie erst im 20. Jahrhundert auf den Begriff gekommen ist, lässt sich aus der allgemeinen Tendenz zur Ausdifferenzierung im Feld der Wissenschaften und in der sozialen Wirklichkeit begreifen. Im biologischen Zeitalter wird sie zu einer Wissensdisziplin, die sich dieser allgemeinen Tendenz entweder entgegenstemmt oder aber sie reflektierend begleitet. [12] Auch diese Spannung besagt einiges über die Funktion philosophischer Anthropologie im biologischen Zeitalter. (Vgl. Illies 2006)
    Die philosophische Anthropologie erfüllt aber nicht nur eine wissenschaftstheoretisch zu beschreibende Funktion, insofern sie die Frage aller Fragen, »Was ist der Mensch?«, aufwirft. Wie Immanuel Kant (1724–1804) an prominenter Stelle (Kant 1968, 25) betont hat, fallen in dieser Frage alle weiteren Fragen – »Was kann ich wissen?«, »Was soll ich tun?«, »Was kann ich hoffen?« – zusammen. Diese Fragestellung hat keinen Zeitindex, nur die Antworten sind geschichtlich. Wer sie für unangemessen hält, weil sie entweder ontologisch (so Martin Heidegger) oder epistemologisch (so Ludwig Wittgenstein) unbestimmt ist, verfehlt Intention und Anspruch philosophischer Anthropologie. Es ist nämlich gut möglich, dass Sinn und Legitimität philosophischen Fragens nach dem Menschen gar nicht an der Bestimmtheit der Fragestellung oder gar an der Hoffnung auf Beantwortbarkeit hängen, sondern vielmehr daran, dass es uns Menschen in einem fundamentalen Sinne auszeichnet, nach uns selbst – unserem Wesen, unserer Herkunft und Zukunft – zu fragen. Das gilt für das Wort des Psalmisten an den Gott Israels »Was ist der Mensch, dass Du seiner gedenkst« (Psalm 8,5) ebenso wie für jedes gegenwärtige Fragen nach dem Menschen – ob in theologischer, religionsphilosophischer, kulturphilosophischer, kulturhistorischer oder kulturanthropologischer Absicht.
    Die Funktion philosophischer Anthropologie liegt darin begründet, dass sie diese Frage aller Fragen immer wieder von neuem stellt, »aber nicht primär in dem Sinne, daß sie Hoffnungen auf die Beantwortung dieser Frage setzt oder erweckt, sondern in dem Sinne, daß sie im Hinblick auf diese Formel fragt: was war es, was wir wissen wollten? Und was kann es sein, was wir erfahren könnten?« (Blumenberg 2006, 483). Diese Überlegung Hans Blumenbergs ist bemerkenswert, weil sie eine Brücke über die Epochen der [13] Geistesgeschichte hinweg bildet und die zwei genannten Aspekte – das Philosophieren vom Menschen aus und die kritische Auseinandersetzung mit den Wissenschaften vom Menschen – zusammenfügt. Hierzu gehören die dringliche Beschäftigung mit unserer Tradition (was wollten wir wissen?) und die ebenso dringliche Öffnung hin auf unsere Zukunft als Kulturmenschen (was könnten wir erfahren?).

[14]
Begriff und Geschichte philosophischer Anthropologie
    Anthropologisches Philosophieren geht von der Grundfrage »Was ist der Mensch?« aus. Die Antworten auf diese Frage geben Anhaltspunkte dafür, was wir Menschen über uns wissen wollten. Doch die Zahl der Definitionen, die über die Jahrtausende kulturgeschichtlicher Entwicklung in Anschlag gebracht wurden, ist schier unendlich. Sie reichen vom »zweibeinigen Lebewesen ohne Federn« (Platon), »vernünftig sprechenden Lebewesen« (Aristoteles), »Ebenbild Gottes« (A. T.) und vom »vernünftigen sterblichen Lebewesen« (Augustinus) über Pascals »denkendes Schilfrohr« und Jean-Jacques Rousseaus »entartetes Tier« bis zu dem »prügelnden Tier« Arthur Schopenhauers, dem »kranken
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