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Philosophische Anthropologie

Philosophische Anthropologie

Titel: Philosophische Anthropologie
Autoren: Gerald Hartung
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Republik zum Weltreich ein Modell der Lebensführung, das der neuen Dimension angemessen ist. Das Konzept der »Humanitas« ist die Konsequenz einer radikalen Entgrenzung aller Vorstellungen vom natürlichen, an Herkunft und Sitte gebundenen Menschen. Weder die Natur noch die politische Ordnung geben ein zureichendes Maß für die Selbstbestimmung des Menschen. Dieses Maß kann er nur in sich selbst finden und durch eigene Kraft in seiner Lebensführung zum Ausdruck bringen (Seneca).
    Dem Misstrauen in die integrierende Struktur des politischen Verbandes korrespondiert in der stoischen Lehre das Vertrauen in die Kräfte des Individuums. Die stoische Anthropologie ist so gesehen im Kern eine radikale Individualethik. Von mindest ebenso großem Misstrauen gegenüber natürlichen Strukturen des Handelns und Denkens gekennzeichnet ist die Lehre Plotins (204/205–270), der einer der wirkmächtigsten Philosophen der Spätantike ist. In einer Geschichte des anthropologischen Denkens allerdings spielt der Neuplatonismus keine nennenswerte Rolle. In metaphysischer Spekulation und mystischer Praxis ist er über die Gegensätze, Widersprüche und Paradoxien, die an der Frage nach dem Menschen hängen, immer schon hinaus. Erst in der Renaissance wird unter veränderten Vorzeichen eine neuplatonische Anthropologie entstehen.
[22] Der Mensch vor Gott I (Antike und Mittelalter)
    Die antike Welt wird nicht nur in ihren Zentren Athen und Rom, sondern auch an ihren Peripherien geprägt. Eine neue Lehre vom Menschen entfaltet sich aus dem jüdisch-christlichen Kulturkreis heraus mit einer Verzögerung, die sie aus dem Zusammenhang der bisher dargestellten Denkansätze heraushebt, in den sie doch zeitlich gesehen gehört. Die mythischen Ursprünge des biblischen Menschenbilds und die Betrachtungen in Altisrael über das Verhältnis von Mensch und Gott, wie sie in der Psalmenliteratur, den Prophetenbüchern und dem Buch Hiob enthalten sind, haben unseren Kulturkreis nachhaltig geprägt. Hervorzuheben ist, dass hier ein universaler Begriff vom Menschen entworfen wird, der aufgrund seiner Korrelation mit der entstehenden Vorstellung vom einen Gott die Grenzen des griechisch geprägten antiken Kulturkreises sprengen wird. Adam ist »der Mensch«, und seine Nachfahren stehen als Geschöpfe des einen Gottes wesentlich über allen sprachlichen und kulturellen Differenzen. In der Frage des achten Psalms – »Was ist der Mensch, dass Du seiner gedenkst« – wird die Menschheitsfrage schlechthin gestellt. Wirkmächtig über die Grenzen des Vorderen Orients hinaus ist der Gedanke vom einen Gott und der einen Menschheit allerdings erst in dem Moment, als die heilsgeschichtliche Erwartung von der Zugehörigkeit zum Volk Israels abgekoppelt und auf die gesamte Menschheit übertragen wird.
    Dies geschieht bei Paulus (gest. 60/62), der Athen und Rom mit Jerusalem zusammenführt und ein neues Paradigma der Anthropologie konturiert, das gleichwohl Anleihen bei den Philosophien der Antike macht. So wird unter dem Gesichtspunkt heilsgeschichtlicher Naherwartung die stoische Entwertung von Natur und Polis auf die Spitze getrieben. In radikaler Rückbesinnung auf sich selbst soll der Mensch nach Paulus’ Ansicht in Christus, dem zum Menschen gewordenen Gott, ein neues Maß seiner Selbstbestimmung erkennen. So [23] wird der platonische Dualismus in die Vorstellung von der Doppelnatur (Fleisch und Geist) übersetzt, in der sich der Mensch im Widerspruch seiner selbst als ein äußerer und wirklicher Mensch (Adam) und ein innerer und möglicher Mensch (Christus) erlebt. Diesen Widerstreit in sich zu lösen liegt aber nicht in der individuellen Stärke des Menschen, weder im handelnden noch im denkenden Tätigsein. Vielmehr verlangt Paulus vom Menschen, sich im Glauben für die Möglichkeit einer Aufhebung der Gegensätze zu öffnen und vorzubereiten. (2. Korintherbrief 4.16; Römerbrief 7.22)
    Mit der jüdisch-christlichen Vorstellung vom Sündenfall des Menschen und der hieraus resultierenden Erlösungsbedürftigkeit kommt ein starkes Moment von Transzendenz ins Spiel, das auf dem Gedanken der Erlösung durch Gnade und des Heraustretens aus der Zeit aufbaut. Zugleich wird aber auch das menschliche Leben in der Zeit, zwischen Sündenfall und Erlösung, trotz aller rhetorischen Figuren der Entwertung, gleichsam als Phase der Vorbereitung auf ein Leben im Glauben anerkannt. Unter der Bedingung des Aufschubs impliziert die heilsgeschichtliche Perspektive eine
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