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Philosophische Anthropologie

Philosophische Anthropologie

Titel: Philosophische Anthropologie
Autoren: Gerald Hartung
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Tier« Friedrich Nietzsches und dem »Triebverdränger« Sigmund Freuds. (Vgl. Hartung 2003, 11–35) Es gibt daher gute Gründe, die unüberschaubare Fülle der Antworten und Definitionsversuche in einen geschichtlichen Überblick und in typologische Muster einzufangen. Diese Vorgehensweise hat den Vorteil, allzu simple lineare Gedankenführungen und reduktionistische Modelle als solche zu erkennen. »Aufgabe einer Anthropologie wird es sein, den Menschen in diesen verschiedenen Gestalten wiederzufinden und ihn in seiner Einheitlichkeit zu erfassen.« (Groethuysen 1928, 207)
Der Mensch im Kosmos I (Antike)
    Soweit die schriftlichen Quellen und Vermutungen über die Anfänge menschlicher Kulturentwicklung uns Sicherheit geben, ist davon auszugehen, dass sich der Mensch in der Frühzeit der Kulturgeschichte im Spiegel der Natur betrachtet. In dieser anthropomorphen Phase vermutet er in allem [15] Naturgeschehen absichtsvolles, wenn auch für ihn unergründliches Handeln. Götter schufen seiner Ansicht nach die Welt, so wie er selbst seine Welt mit Werkzeugen und durch Handeln erzeugt. Alles, was die Natur im Menschenleben bewirkt, vom Regen über den Wind und täglichen Sonnenaufgang bis zu außergewöhnlichen Ereignissen wie einem Erdbeben, scheint auf ihn, den Menschen, abzuzielen. Hinter allem Geschehen vermutet er eine Absicht, die, obwohl sie verborgen bleibt, ihn betrifft.
    Erst ein allmählicher Abbau dieser »ursprünglichen Allvermenschlichung« (Landmann 1982, 15) hat die Voraussetzung dafür geschaffen, dass der Mensch sich seiner Sonderstellung bewusst wird. In dem Maße, in dem er aus der Natur heraustritt, verliert die Weltansicht des Menschen der kulturellen Frühzeit ihre Naivität. Und es entsteht die Notwendigkeit, ein Naturgeschehen, in das man sich hineingerissen sieht, mit Sinn zu erfüllen. Die Ambivalenz von Naturentfremdung und Bewusstwerdung einer übernatürlichen Wertschätzung des eigenen Selbst prägt die menschliche Kulturgeschichte bis heute. Nur die Suche nach den verborgenen Absichten hat sich zusehends verfeinert.
    Auf die Phase der Allvermenschlichung, in welcher der Mensch sich mit seinen Bedürfnissen, Wünschen und Vorstellungen unmittelbar im Naturgeschehen spiegelt, folgt eine Zeit, die von kosmologischer Spekulation beherrscht wird. Ihr Grundgedanke ist, dass die Gesetzmäßigkeit des Gesamtkosmos auch im Menschen wirkmächtig ist. Also wird eine Entschlüsselung der kosmischen Kräfteverhältnisse auch einen Aufschluss über die Wirkmächte geben, die menschliches Denken und Handeln bestimmen. In den kosmologischen Theorien der Vorsokratiker (vgl. Diels 1903) geht es um die Suche nach einem einheitlichen Maß – was im Großen und Ganzen gilt, das muss auch im Kleinen gelten. Heraklit von Ephesos (um 500 v. Chr.) spricht von einem gemeinsamen »Metron«, das sowohl den Lauf der Natur als auch das Handeln des Menschen bestimmt. [16] (Heraklit, Frag. 30) Gemäß dieser Vorstellung ist der Mensch ein Teil eines kosmischen Wirkungszusammenhangs. Ihm ist seine Stellung im Kosmos zugewiesen und er hat sein Handeln nach dem Maß aller Dinge auszurichten.
    Mit Protagoras (ca. 485 – 410 v. Chr.) bricht diese Ordnungsvorstellung auseinander. Sein berühmtes Diktum »Der Mensch ist das Maß der Dinge« (Platon, Theaitetos 151d–152a) verkehrt die Vorzeichen. Von nun an muss der Mensch sich zuerst selbst verstehen, bevor er die Ordnung der Dinge enträtseln kann. Allein in sich findet er sein Maß, er wird zum Maßgebenden der Natur. Die Philosophie der Vorsokratiker ist von den unterschiedlichen Ordnungsvorstellungen des Heraklit und des Protagoras gleichermaßen durchdrungen, und sie scheitert gleichsam in dem Versuch, ein »Metron« in der Natur zu finden, wie auch im anmaßenden Versuch, den Menschen selbst zum Maß der Dinge zu machen.
    Im Resultat dieses doppelten Scheiterns weiß der Mensch nicht um seine definitive Position, sondern erfasst sich als ein Vergleichsmoment unter anderen. Platon (ca. 427 – ca. 347 v. Chr.) lässt Protagoras den später klassisch gewordenen Mensch-Tier-Vergleich formulieren. (Platon, Protagoras 322a) Im Vergleich zum Tier ist der Mensch schlecht ausgestattet. Seine körperliche Schwäche und seine Instinktunsicherheit machen ihn zu einer riskanten Lebensform. Platon parodiert diese Denkfigur in der zoologischen Klassifizierung des Menschen als »zweibeiniges Lebewesen ohne Federn«. Viel entscheidender als die tatsächliche Unterlegenheit ist
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