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Philosophische Anthropologie

Philosophische Anthropologie

Titel: Philosophische Anthropologie
Autoren: Gerald Hartung
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gesehen und zum Objekt seiner Betrachtung und seines Handelns erhoben. Diese Sichtweise lässt sich auf die Formel bringen, dass den Menschen zu erkennen heißt, die Natur zu erkennen. Die große Leistung der psychologischen Anthropologie liegt in der Aufstellung von Gesetzen, die das menschliche Seelenleben dominieren und deren Erforschung es ermöglicht, seelische Zustände in ein Verhältnis zur Außenwelt zu setzen. Unter Rückgriff auf die stoische Seelenlehre findet hier »eine neue Vertiefung des Menschen in sich selbst, in die letzte Innerlichkeit seines Wesens statt« (Dilthey 1991, 450).
    Beispielhaft geschieht dies bei Michel de Montaigne (1533–1592). Montaigne nimmt den unendlichen Kosmos der kopernikanischen Zeit nicht in ein religiöses Erlebnis auf, um auf diese Weise die Erfahrung der Unendlichkeit zu neutralisieren. Vielmehr setzt er sich dem unermesslichen Kosmos aus und vermerkt seine Ratlosigkeit als Grundmotiv der Selbsterfahrung. Er legt den Schwerpunkt wieder auf das Unbekannte, dem der Mensch gegenübersteht und das ihm rätselhaft bleibt. So bleibt auch er sich zutiefst rätselhaft. Montaigne sucht ebenfalls das Menschliche im Menschen zu finden. Dabei trennt er nicht zwischen Menschsein im Allgemeinen und der Tatsache, dass ich dieser Mensch bin. Sein Blick verliert sich jedoch im Fremden. Was ihm vertraut erscheint, ist nur ein kontingenter Ausschnitt aus einer Fülle von Möglichkeiten, die ihm die Natur bietet.
    [31] Für Montaigne ist der Mensch der einzige Gegenstand seiner Studien. Alles darüber hinaus ist Schein, es kann seiner Ansicht nach keine allgemeine Lehre vom Menschen geben. Montaigne geht es nur um das Individuum, um sich selbst, sein »être universel«: »Ich will, dass man mich in meiner einfachen natürlichen und gewöhnlichen Gestalt sieht, ohne Verstellung und ohne Kunstgriff, denn ich selbst bin es, den ich malen will. Alle meine Fehler wird man hier in ihrem vollen Lichte sehen, alle meine Unvollkommenheiten und mein ganzes unverfälschtes Wesen, soweit die Rücksicht auf den äußeren Anstand es erlaubt. […] So bin ich selbst der Gegenstand meines Buches.« (Montaigne 1972, Vorrede)
    Nach Montaignes Ansicht kann es vom Menschen als dem flüchtigsten, veränderlichsten und launischsten aller Wesen keine allgemeine Theorie geben. Der skeptische Blick auf die wandelbare menschliche Natur wird von ihm nicht in einem »transcende te ipsum« beruhigt. Das anthropologische Denken weicht hier der Unergründlichkeit der Natur nicht aus und wird zu einer Art Protokoll der Selbsterfahrung. Lebenskunde und Biografik geben dem anthropologischen Denken in dieser Zeit eine neue und gleichsam literarische Form.
Der Mensch vor Gott II (Reformation)
    Die Lehre von der Unendlichkeit des Kosmos ist nicht nur für die Selbsterfahrung ein Risiko, mindestens ebenso groß ist die von ihr ausgehende Gefährdung für die theologische Weltdeutung. Giordano Bruno (1548–1600) hat die Konsequenzen dieser Weltsicht herausgestellt. Er hat gesehen, dass unter der Voraussetzung eines entgrenzten Kosmos, der keine räumlich bestimmte Form hat, die Form und Ordnung der Dinge tatsächlich nur im Menschen entstehen kann. An seiner Befähigung zum Denken hängt die »visio unitatis«. Dies aber bedeutet, wenn man den Grundsatz der [32] Angemessenheit von Sache und Verstand weiterhin ernst nimmt, dass sich das menschliche Denken der Unendlichkeit und Grenzenlosigkeit des Kosmos nur dann als angemessen erweist, wenn es sich selbst ebenfalls entgrenzt. Nur insofern der Mensch das Unendliche denkt, vollzieht er seine Teilhabe an den unendlichen Weiten der physischen Welt. Er ahmt auf diese Weise, wie Bruno und andere vor ihm betonen, den unendlichen göttlichen Urheber des Kosmos nach. (Bruno, 1888) Er befreit sich damit zugleich notwendigerweise von überlieferten Ordnungsvorstellungen und Begrenzungen seiner freien Entfaltung im Denken – seien sie einer aristotelischen Weltsicht oder den Lehrmeinungen der Kirche verpflichtet.
    Von Cusanus über Bruno bis zu Luther findet sich in der Reformationszeit eine Verarbeitung der neuen Kosmologie und eine Reformulierung der christlichen Anthropologie. Es wäre verkürzt, wenn wir diese Bewegung nur unter dem Aspekt der Weltabkehr begreifen würden. Zwar wird der Mensch erneut aus einem Weltzusammenhang herausgelöst, der ihm in seiner Unbegrenztheit jede Sinndimension zu sprengen droht. Aber der Weg zu Gott führt den gläubigen Menschen zu sich selbst und
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