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Philosophische Anthropologie

Philosophische Anthropologie

Titel: Philosophische Anthropologie
Autoren: Gerald Hartung
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dadurch vermittelt auch in die Welt zurück. Die Denker der Renaissance- und Reformationszeit machen deutlich, dass es ihnen bei allen Unterschieden um die Selbstbehauptung des menschlichen Individuums gegenüber den Zumutungen einer ihm fremden Außenwelt geht.
    Auch Martin Luther (1483–1546) hat diesen Aspekt stark gemacht. Er stellt den sündigen Menschen, dem er jegliche Orientierung im Kosmos abspricht, vor seinen Schöpfergott. Fremdheit und Einsamkeit charakterisieren am nachdrücklichsten die Lebenssituation, die Luther für den Menschen skizziert. An vielen Stellen, am prägnantesten wohl in seiner
Disputatio de homine
(1536) hat Luther seine anthropologische Konzeption dargestellt. In vierzig Thesen, von denen neunzehn der Philosophie und einundzwanzig der Theologie [33] zuzurechnen sind, wird eine anthropologische Konstellation beschrieben, die den Menschen im Widerspruch zwischen seinem naturhaften Leben und seinem Leben im Glauben an Christus erfasst. (Vgl. Härle 2005) Die Philosophie betrifft, bei aller Wertschätzung, die Luther ihr gegenüber äußert, nur den sterblichen Menschen. Der Theologie hingegen geht es um den »ganzen und vollkommenen Menschen« (These 20). Die Philosophie erkennt mit den Mitteln der Vernunft, dass der Mensch ein vernunftbegabtes Wesen ist (These 1). Die Theologie wiederum weist in der Darstellung der elementaren Gottesbeziehung nach, dass der Mensch das durch Christus befreite Ebenbild Gottes und das zum ewigen Leben bestimmte Geschöpf Gottes ist (These 21f.). Während die Philosophie die Tendenz hat, den Menschen dieses Lebens für den ganzen Menschen zu halten, verweist Luther sie in ihre Grenzen und beharrt darauf, dass sie im Vergleich zur Theologie »beinahe nichts« vom Menschen weiß (These 11).
    In wenigen Stichworten markiert er die Grenzen philosophisch-anthropologischen Denkens: Es kennt nicht die im Menschen wirkende Ursache (Gott), auch nicht die Zweckursache dieses Lebens (ewiges Leben), und es verkennt die Formkraft der Seele. Um nicht an diesen Grenzen stehen zu bleiben, bedarf es eines theologisch begründeten anthropologischen Konzepts, das den Menschen als Geschöpf Gottes und als leib-seelische Einheit begreift, die sich nach dem Sündenfall nicht aus eigenen Kräften vom Einfluss des Bösen zu befreien vermag. Dies gelingt dem Menschen nur im Glauben an Christus. Bei Luther steht das paulinische Paradigma unumstößlich fest: Der Mensch ist nur durch den Glauben gerechtfertigt. (Römerbrief 3.28)
    Wenn Luther den Menschen in eine Position drängt, die nur im Glauben gerechtfertigt ist, dann entmythisiert er zuerst einmal das Selbstbild des Menschen und seinen Weltbezug. Über den Menschen ist kein Schicksal verhängt, vielmehr gibt es allein die Begegnung mit einem Gott, die in der [34] Vereinzelung stattfindet. Gott nimmt jeden Menschen im Glauben als Einzelnen in seiner Diesseitigkeit an. Der Glaube an einen Gott, der mich als Einzelnen anspricht, zerstört die mythische Welt und entlarvt falsche Abhängigkeiten. Das ist die besondere Leistung Luthers, vor dessen radikaler Rechtfertigung des Menschen allein im Glauben »diese ganze Welt versinkt«. Nach Luther ist denn auch dieses Motiv des Versinkens einer ganzen Welt in Nichtigkeit angesichts der Evidenz des Glaubens das zentrale Motiv anthropologischen Denkens an der Grenze zur Theologie geworden. Jedenfalls gilt dies für die protestantische Theologie, wo der thomistische Angemessenheitsgrundsatz von Denken und Sein aufgegeben wird.
    Nicht immer wird dieser Gedanke mit einer vergleichbaren Radikalität wie bei Luther geäußert, aber wo dies geschieht, da tritt die Ambivalenz der Befreiung von mythisch-kosmischen Strukturen und des Erschreckens über diese Freiheit deutlich hervor. Während Giordano Bruno den Blick in die unendlichen Weiten des Kosmos als Befreiung begrüßt, löst der gleiche Blick bei Blaise Pascal (1623–1662) das blanke Entsetzen aus: »Die ewige Ruhe des unendlichen Kosmos verschreckt mich« (Pascal 1977, 161), bekennt er und zieht die Schlussfolgerung, dass Selbsterfahrung unter dem Eindruck dieses Schreckens ein prekäres Unterfangen ist. Der Mensch wird keine Antwort auf die Frage nach sich selbst bekommen, wenn er sich auf seine Beobachtungen und sein Denken verlässt. Der unendliche Kosmos ist für den Menschen stumm und Gott in ihm abwesend. Weder außerhalb von sich noch in sich findet er ein Maß. Im Vergleich zur Unendlichkeit, in die er gestellt ist, erscheint
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