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Ich bin der letzte Jude

Ich bin der letzte Jude

Titel: Ich bin der letzte Jude
Autoren: Chil Rajchman
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    Vorwort
    »Die traurigen Waggons bringen mich zu diesem Ort. Sie
kommen von überall her, von Osten und Westen, von Norden und Süden. Tag und
Nacht und zu jeder Jahreszeit, Frühling, Sommer, Herbst, Winter. Die Transporte
kommen reibungslos, ununterbrochen, und Treblinka wird täglich reicher an Blut.
Je mehr gebracht wird, desto mehr kann Treblinka aufnehmen.«
    Gleich zu Beginn des in Jiddisch, der Muttersprache des Autors,
niedergeschriebenen Augenzeugenberichts verschwindet das »Ich« im unheimlichen
Mahlstrom der Güterzüge, deren Ziel der Ort ist, an dem ein kollektives
Schicksal besiegelt wird: Treblinka – die Todesfabrik, die unzählige Ladungen
von Menschen verschlingt.
    Chil Rajchman war einer der wenigen Überlebenden. Nach dem Aufstand
    im Lager am 2. August 1943 – seine zweite Geburt, wie Rajchman einmal erklärte 1 – versteckte er sich
bis Kriegsende an verschiedenen Orten, zuletzt in Warschau. In dieser Zeit
schrieb er den Bericht über die zehn in Treblinka verbrachten Monate. Somit
entstand der Text, als Tod und Krieg noch ihre Schatten warfen; und das macht
die Seltenheit und Besonderheit dieses Dokumentes aus: Es galt, unbedingt eine
Spur jener Ereignisse zu bewahren, die das Vorstellungsvermögen auf eine so
harte Probe stellen.
    Zwei andere Texte dieses Typs sind überliefert. Calel Perechodnik,
ein jüdischer Polizist des Gettos von Otwock, einer Sommerfrische unweit von
Warschau, entkam der Liquidierung des Gettos und fand nach einigen Umwegen ein
Versteck im »arischen« Warschau. Dort schrieb er auf Polnisch den Text nieder,
der unter dem Titel Bin ich ein Mörder? 2 erschienen ist.
    Simcha Guterman 3 entkam, zusammen mit seinem Sohn, durch Flucht der Liquidierung des Gettos von
Płock. Unterwegs schrieb er täglich seine Erinnerungen nieder und versteckte
die Zettel an verschiedenen Stellen, bis er schließlich Warschau erreichte.
Simcha Guterman und Calel Perechodnik kamen beide beim Warschauer Aufstand 1944
ums Leben.
    Alle drei Texte zeichnen sich dadurch aus, dass die Verfasser
gänzlich hinter dem zurücktreten, was sie beschreiben. Die schonungslose und
direkte Erzählweise, die unnachsichtige und ungeschminkte Schilderung ihres
eigenen Handelns lassen sich nur aus der Ungewissheit der Autoren über ihr
Überleben erklären. Das, wovon sie Zeugnis ablegen, ist stärker als der Wunsch,
ein Bild von sich selbst zu zeichnen und Sympathie oder Mitleid zu erwecken.
    Chil Rajchman bewahrte seine Erinnerungen auf und nahm sie mit auf
den Weg in die Emigration. Er ließ sich in Montevideo (Uruguay) nieder,
gründete eine Familie und baute sich eine berufliche Existenz auf. Bemühte er
sich um eine Veröffentlichung seiner Erinnerungen? Vermutlich nicht. Ebenso wie
seine Kameraden sagte Chil Rajchman erst spät als Zeuge aus: zunächst in den USA – beim Ausbürgerungsverfahren gegen Ivan Demjanjuk 4 , in dem er »Iwan den
Schrecklichen« zu erkennen glaubte, der in Treblinka die Vergasungen
durchgeführt hatte – dann beim Prozess gegen Demjanjuk in Jerusalem. Von da an
war Rajchman die überlebensgroße Figur in Uruguay. Doch erst heute ist sein
schriftlicher Bericht der Öffentlichkeit zugänglich.
    Die erschreckende Schönheit und Kraft dieses kurzen Textes gründen
in der geisterhaften Unschärfe, die davon berichtet, was das Leben in Treblinka
war. Weder kommen andere Zeitzeugen zu Wort, noch werden wissenschaftliche
Erkenntnisse herangezogen. Die Männer, von Peitschenhieben angetrieben, rennen
ununterbrochen, müssen den Frauen das Haar scheren, den Leichen Zähne ausreißen
und rennend die verwesten Toten wegschaffen. In Chil Rajchmans Text werden nur
wenige Namen genannt: natürlich Kurt Franz und sein Hund Barry; Matias 5 , bei
dem es sich wahrscheinlich um den SS -Scharführer
Heinrich Arthur Matthes handelt, sowie ein paar Spitznamen, die das Jiddische
sehr liebt. Der SS -Mann ist der »Mörder« oder
»Verbrecher«. Der Mann, der eigens kam, um die Verbrennung von Hunderttausenden
von Leichen zu rationalisieren, und der einen genialen, aus Eisenbahnschienen
gebauten Rost erfand – wahrscheinlich Herbert Floß, dessen Identität den
Häftlingen verborgen blieb –, wurde von diesen ironisch »der Artist« genannt.
    Auch nur wenige Daten werden angegeben, abgesehen natürlich vom
Aufstand am 2. August 1943, bei dem viele Häftlinge umkamen, der aber auch
mehreren Hundert, die sich damals im Lager befanden, die Flucht ermöglichte.
Viele der Flüchtenden wurden
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