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Pforten der Nacht

Titel: Pforten der Nacht
Autoren: Brigitte Riebe
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von der Bevormundung eines weltlichen oder kirchlichen Stadtherrn zu befreien, hatten sich nicht nur die Handwerker in Zünften zusammengeschlossen, sondern auch Kaufmannsfamilien in Gilden. Die Kaufleute zeigten sich als die eigentlichen Gewinner des 14. Jahrhunderts, zumindest bis zum letzten Drittel, als schließlich reich gewordene und selbstbewusste Handwerker immer stärker in die Stadtparlamente drängten und erfolgreich mit allen Mitteln versuchten, den alten Stadtherren den festgefügten Rang streitig zu machen.
II
    Was war mit der alten, festgefügten Ordnung geschehen, in der die Menschen über viele Jahrhunderte hinweg mehr oder minder friedlich gelebt hatten? Nichts war mehr wie bisher, wo alle in einer universellen, wenn auch starren Einheit ausgeharrt und gearbeitet hatten - ohne allzu ernsthafte Versuche, den Platz zu verlassen, an den sie qua Geburt gestellt worden waren. Es war, als ob die Menschen jener Zeit plötzlich ihren Gleichgewichtssinn verloren hätten, ein prägnantes Kennzeichen aller Werde- und Übergangszeiten.
    Die beiden Koordinatenachsen, nach denen das gesamte mittelalterliche Leben seit Menschengedenken orientiert war, Kaisertum und Papsttum, begannen zu verschwimmen. In der ersten Phase des 14. Jahrhunderts machte das Reich die seltsame Farce einer gemeinsamen Doppelregierung Ludwigs des Bayern und Friedrichs von Österreich durch, und von da an sollte es nicht mehr zur Ruhe kommen, bis das Jahr 1410 schließlich drei deutsche Könige sehen würde: Sigismund, Wenzel und Jost von Mähren.
    Fast genau um dieselbe Zeit erlebte die Welt das Unerhörte, nämlich dass drei Päpste aufstanden: ein römischer, ein französischer und ein vom Konzil gewählter. Das hieß für die Menschen der damaligen Zeit ungefähr so viel, als ob man ihnen plötzlich eröffnet hätte, es habe drei Erlöser gegeben oder ein Mensch besitze drei Väter. Die allgemeine Auflösung ergriff also zuerst die Spitze der Gesellschaft und setzte sich erst dann rasch und kaum weniger vehement weiter nach unten bis in alle Schichten fort.
III
    Besonders arg war die Kirche betroffen. Die Päpste saßen in Avignon und unterhielten einen Hof mit größtem Pomp, der uneingeschränkter Verschwendungssucht huldigte und sich weltlicher als jeder weltliche Staat gebärdete. Alles wurde verkauft, alles und jedes machte die Kirche zu Geld, jedes Amt, jede Ernennung, jede Gnade, jede Absolution. Kirchliche Pfründe in Gestalt von 700 bischöflichen Diözesen und Hunderttausende niedriger Ämter wurden zu einer schier unerschöpflichen Einnahmequelle für den Heiligen Stuhl. Gleichzeitig war der Zustand innerhalb der Kirche miserabel. Viele Priester konnten kaum oder gar nicht lesen und stotterten sich bestenfalls mit einer Handvoll lateinisch gebrabbelter Wörter durch die Liturgie. Da die kirchlichen Sakramente nur noch nach ihrem Geldwert beurteilt wurden, versickerte ihr religiöser Gehalt mehr und mehr.
    Doch eine Institution, die die gesamte Kultur beherrschte und tief in der Gesellschaft verwurzelt war, löste sich nicht einfach auf: Das Christentum war und blieb der Bodensatz des mittelalterlichen Lebens. Es regelte Geburt, Heirat und Tod, das Verhältnis der Geschlechter, Gesetze und Medizin; es war das Thema, um das die Philosophie und die gesamte Gelehrsamkeit kreisten. Die Zugehörigkeit zur Kirche war keine Frage der freien Wahl, sondern ein Zwang ohne Alternative. Das gab ihr eine immense Macht über die Menschen - über ihr Denken, Fühlen und Handeln.
    Und: Die Kirche gab bereits seit mehr als tausend Jahren Antworten; sie allein schenkte dem Leben Sinn und Bedeutung. Wer ausscheren wollte, dem drohten anscheinend unweigerlich Hölle, ewige Qual und Verdammnis.
IV
    Gegen diese reiche Kirche »in Gold und Purpur« allerdings, die ganz offen mit ihrer Macht protzte, hatten sich bereits seit dem frühen 12. Jahrhundert ketzerische Bewegungen entwickelt, die vor allem in den Städten schnelle und effektive Verbreitung fanden. Dort gab es den sozialen Gärsatz, der ihre Thesen hören und nachleben wollte: Händler, Tagelöhner, Spielleute, Gaukler und Bettler - Menschen, die mobil waren und nicht länger an die Scholle gebunden. Teilweise war es der Kirche bereits gelungen, solche revolutionären Umtriebe in den »armen Orden« der Franziskaner und Dominikaner zu kanalisieren, die die materielle Welt abgelehnt hatten, um sich auf Christus und seine gepredigte und gelebte Armut zu berufen.
    Im Lauf der Zeit entwickelte
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