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Pforten der Nacht

Titel: Pforten der Nacht
Autoren: Brigitte Riebe
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Bauerndörfer, Anna. Wir werden genug zu essen haben, du wirst sehen!«
    »Und was ist mit meinem Kind? Soll ich es vielleicht auf deinem Karren bekommen?«
    Doch dazu kam es nicht. Sie spürte die Wehen, als sie einen Weiler erreichten, umgeben von fetten Weiden und blühenden Wiesen. Bald schon würde das Korn gelb sein und der Sommer endgültig seinen Einzug halten. Es war Mai inzwischen, die Luft erfüllt vom Summen der Bienen. Eine Bauersfrau, die sie hechelnd am Wegrand fand, erbarmte sich und bot die freistehende Kammer der Magd an. Und dort, auf der roh geschnitzten Bettstatt mit dem Baldachin, schenkte Anna ihrem Kind das Leben.
    Es war eine schnelle, heftige Geburt, schmerzhaft zwar, aber um vieles kürzer als damals bei Flora, wo sie viele Stunden lang das Kommen und Gehen der Wehen durchlitten hatte. Beinahe, als könne das kleine Geschöpf es kaum erwarten, das Licht der Welt zu erblicken. Es schoss aus ihr heraus, mit einem Schwall von Blut, und begann sofort zu krähen. Die Bauersfrau, offenbar bestens an das Geschäft der Hebamme gewöhnt, nabelte es ab und versorgte auch die Nachgeburt, die nicht lange auf sich warten ließ.
    »Ein Mädchen!«, sagte sie in ihrem singenden Platt, das Anna inzwischen leidlich gut verstand, und legte es ihr an die Brust. Die Kleine begann sofort zu saugen. Da war es wieder, jenes unvergleichliche Gefühl, nach dem sie sich so lange gesehnt hatte!
    Sie begann zu weinen, vor Glück und Erschöpfung. Als sie jedoch den Schopf ihrer Tochter sah, der sie an einen kümmerlichen Wiedehopf erinnerte, musste sie lächeln.
    Bocca ließ zwei Wochen verstreichen, bis sie sich wieder ganz kräftig fühlte, dann drängte er erneut zum Weiterfahren. »Brügge wartet!«, sagte er. »Ich hab schon alles ausgekundschaftet. Mitten auf dem berühmten Grote Markt werden wir auftreten.«
    Anna hatte sich den Winter über ein paar einfache Kunststücke von ihm abgeschaut; im Wesentlichen aber bestand ihre Rolle darin, ein nettes Gesicht zu machen und zwischen den Schaulustigen herumzugehen, um das Geld einzusammeln. Die Kleine trank brav und hatte schon einiges an Gewicht zugenommen; Anna liebte es, wenn sie das duftende Bündel ganz eng an ihrem Körper tragen konnte. Bocca hatte ihr zu diesem Zweck ein großes Tuch geschenkt, wie es die Frauen seines Volkes benutzten.
    »Bei uns muss kein Kind lange weinen«, sagte er grinsend. »Vielleicht sind wir Tsiganes deshalb so zufriedene Menschen.«
    Sie kamen am Morgen in die Stadt, als die Händler die Stände schon mit all ihren Waren bestückt hatten. Bienenwachs gab es zu kaufen, Gemüse und Früchte aller Art, Rauchwerk vom Schwarzen Meer, Tuchballen vom einfachen Barchent bis zum kostbaren Samt. Von den Kais kam das Aroma des Meeres, dazu ein starker Malzgeruch, der verriet, dass irgendwo in der Nähe eine Bierbrauerei sein musste.
    Die Kleine war unruhig und hungrig; Anna verzog sich in den Schutz des Karrens, um sie zu stillen, während Bocca schon mit dem Aufbau begann. Sie schloss ihr Kleid, nachdem sie fertig war, band sich das Tuch mit dem Kind um und trat heraus in die warme Vormittagssonne. An der Schmalseite des großen, inzwischen schon munter bevölkerten Platzes lag eine lang gestreckte Halle, in deren Laubengängen man den hiesigen Fleischmarkt untergebracht hatte. Darüber erhob sich ein stattlicher Turm, mit einem Glockenspiel ausgestattet, das gerade zu schlagen begann. Sie schaute hinauf zum Steinfiligran, das die Brüstung der Geschosse wie feine Spitzen umgab, und lauschte.
    In diesem Augenblick überquerte ein kräftiger, dunkelhaariger Mann den Grote Markt und blieb wie erstarrt stehen. Niemals würde er dieses Gesicht vergessen, solange er lebte! Die schmalrückige Nase, die festen Lippen, die schiefergrauen Augen, in denen eine ganze Welt lag. Wie im Traum kam er näher und näher, bis ihn schließlich nur noch wenige Schritte von der Frau trennten.
    »Anna!«
    »Esra!«
    Sie hätte hinsinken können auf den kunstvoll gepflasterten Boden. Ihre Knie zitterten. Bocca, der sofort verstand, was sich hier abspielte, verzog sich zur Seite.
    »Du lebst«, sagte sie schließlich. »Und ich dachte …«
    »Ja, ich lebe.« Seine Stimme war heiser vor Erregung. »Hier in der Stadt, stehe in Lohn und Brot bei einem Lombarden, der sich nicht viel darum schert, wer Jude ist und wer Christ, wenn man ihm nur seine Bücher ordentlich führt. Weißt du, dass ich verzweifelt überall nach dir gesucht habe? Aber keiner in Köln konnte
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